Kleinlinden bei Gießen (23. Juni)
Heute war wieder ein Tag! Ein rechter Jakobspilger sagt dazu nur: typisch!
Bei der ersten Radwege-Kreuzung heute morgen (es gibt ja hier keine Jakobswege- oder Elisabethpfad-Markierungen mehr, hier ist kein Jakobsweg), höre ich plötzlich ein fröhliches "Hallo!" hinter mir. Ein original Jakobspilger steht da! Ein Franzose aus Toulouse, wie er sich vorstellt: Jean-Pierre.
Er ist von Krakau aus unterwegs.
Da auch er Richtung Wetzlar will, gehen wir gemeinsam weiter. Und da er, ein echter Pilger halt, wenig Sprachen mehr als Französisch und ein bißchen Englisch spricht, geht's nun französisch weiter.
Wer mein Naturtalent in Sprachen kennt (Ausspruch eines meiner seinerzeitigen Lehrer: Ein blindes Huhn (mit dem Huhn bin ich gemeint!) findet auch einmal ein Korn!), wird sich ausmalen können, wie radebrechend und gestikulierend die Unterhaltung verlief. Wir liefen nebeneinander, und Jean-Pierre erzählte und erzählte.
Er stammt aus der Gegend von Toulouse, er ist seit Mitte April von Krakau in Polen aus unterwegs, seine ganze Heimatgemeinde hat ihn feierlich verabschiedet. Er hat nur eine Europakarte auf der die Jakobswege eingezeichnet sind und die wichtigsten Städte, ansonsten geht er nach seiner Nase. Er war Lehrer.
In Polen ist er erst Richtung Ostsee gegangen und hat für sich wichtige Orte, Wallfahrtsorte, Geburtsort des Papstes Johannes, aber auch Orte in denen Schreckliches geschah, zum Beispiel Aussig, besucht.
Er hat viel Herzlichkeit in Polen erlebt, ist überall, wie nun auch in Deutschland, freundlich und hilfsbereit aufgenommen worden. Er will nun, wie ich, die Lahn abwärts wandern, aber dann anders als ich, über Luxemburg den nördlichen Französischen Jakobsweg, den über Paris, gehen.
Er ist schon im Vorjahr den Weg von Brindisi nach Santiago gegangen und will nächstes Jahr den isländischen (!) Jakobsweg (ja, den gibt's auch) gehen.
Um die Mittagszeit wollten wir wo einkehren, er brauche seine "Vitamine", er hatte offenbar noch kaum gegessen, wogegen ich, ich kam mir ja fast schon als Edelpilger vor, schon opulent gefrühstückt hatte. Leider gab's natürlich keine Wirtschaft, die offen hatte, und so besorgten wir uns gut gekühltes Bier im Getränkemarkt und schnell war eine Stunde vorüber.
Nun ging's weiter, und da ich natürlich mit dem besseren Kartenmaterial ausgerüstet bin, außerdem die Landessprache beherrsche, vertraute er sich meiner Führung an – und wir liefen prompt falsch, zweimal einen schönen Berg hinauf. Dann gab ich die Führung an Jean-Pierre ab, und recht bald waren wir dank seiner "nez" wieder auf dem richtigen Radweg.
Dazu muss ich zu meiner Ehrenrettung sagen, ich verlies mich auf Superabkürzungs- und persönliche Geheimwege-Versprechen der Leute, die gut gemeint, aber bei der kleinsten Fehlinterpretation an einer Stelle unweigerlich in die Irre führen. Heute hatte ich diesbezüglich einen ganz besonderen Tag, auch nach der Trennung von meinem Franzosen verlief ich mich nochmal aus dem gleichen Grund. Die Gegend um Gießen ist aber auch hervorragend zum Verlaufen geeignet!
Jean-Pierre dagegen ging an den Ausgangspunkt zurück, wo noch alles klar war und von da orientierte er sich. Werd ich hoffentlich auch noch lernen und kapieren!
Er führt auch ein Tagebuch auf eng, in einer gestochen schönen Schrift beschriebenen Seiten eines dicken Heftes. Er hat auch ein exaktes System, seine Photoaufnahmen zu beschreiben und außerdem ein kleines Heftchen in dem all die Leute aufgeschrieben sind, derer er in Santiago gedenken will ‐ seit heute auch ich, Geneviève und Chantal. (Merci beaucoup! Rem. de la réd.)
Er trägt auch Dinge mit sich (sein Rucksack wiegt um die vierzehn Kilogramm), die ihm Leute nach Santiago mitgegeben haben. Am interessantesten ist dabei ein kleines Medizinfläschchen mit dem "Wasser" eines Babys, das er in der Kathedrale von Santiago verspritzen soll.
Obwohl wir eigentlich direkt nach Wetzlar wollten, landeten wir in Gießen, wie gesagt, das Wegesystem... Aber wir hatten Glück! Wir fanden einen Griechen der für uns um 14.00h noch aufkochte. Ich hatte Jean-Pierre eingeladen, und er verriet mir dann, dass er schon seit zwei Monaten nicht mehr richtig gegessen habe, daheim sei er ein begeisterter Hobbykoch.
Frisch gestärkt aber müde in den Beinen ging's nun weiter Richtung Wetzlar. Nun lud mich Jean-Pierre zum Eis ein, und wir unterhielten uns mit einer Gruppe von Leuten am Nachbartisch. Ein junger, bärtiger Mann gesellte sich auch noch dazu und gab mir die neuesten Tips zum Weg nach Wetzlar, Jean Pierre palaverte nebenbei mit einer Frau, die ihr Schulfranzösisch auffrischte und bewunderte immer wieder charmant die vorbeiflanierenden Schönheiten von Gießen. Ein richtiger Franzose halt!
Aber alles geht einmal zu Ende. Ich eröffnete Jean Pierre, dass ich doch nicht im Freien übernachten würde, wie ich's vorgehabt hatte. Wär ja ein guter Einstieg mit einem Partner gewesen und sicher ganz interessant und lehrreich, aber irgendwie war ich geschafft, auch verschwitzt, und das Wetter schien auch nicht ganz stabil.
So trennten wir uns, als ich die erste Pension sah, gelobten uns gegenseitig einander in Santiago zu gedenken, und ganz modern e-mailend in Verbindung zu bleiben.
Die Pension war belegt, das nächste Gasthaus auch, das mir empfohlene Gästehaus auch. Hätte ich doch mit Jean Pierre im Freien schlafen sollen?
Ein Hotel in Kleinlinden hatte noch ein Zimmer. Aber es war noch ein Weg von einer Stunde, der eher von meiner weiterführenden Route wegführte.
Und da sitze ich nun, bei einem Glas Bier auf dem Zimmer, es ist ein Hotel garni, heute ohne Abendessen, das hatte ich ja schon mittags, und denke an Euch alle und schreibe und schreibe...
Euer Siegfried