Les Riceys (1. August)
Irgendwie habe ich ein Talent, immer dann in einen Ort zu kommen, wenn ein besonderes Fest ist. Erst war's das Stadtest in Limburg, dann das Weinfest in Trier und jetzt das Champagnerfest in Les Riceys. Aber Gottseidank bin ich einen Tag zu früh dran und kriege nur die Vorbereitungen mit. Da ist dann die Versuchung nicht allzu groß.
Heute früh bin ich relativ spät aus dem Haus gegangen, die Unterhaltung mit den Mitgästen und der Hauswirtin hat mich die Zeit vergessen lassen und außerdem regnete es. Als ich dann gegen zehn Uhr aufbrach, hatte es aufgehört zu regnen, aber es war so schwül, dass die Haut auch ohne Anstrengung schon feucht war. Ich schrieb noch zwei Karten aus der Künstlerstadt an Künstler und besuchte die schöne alte Kirche mit Marmoraltären und Marmorkreuzweg.
Heute würde es wenig anstrengend sein. Allerdings hatte ich mir gestern noch vier Bananen und eineinhalb Liter Saft als eiserne Reserve mitgenommen, weil so ein schönes Geschäft da war. Auch Papiertaschentücher hatte ich mir gekauft. Allerdings suchte ich diese sehr intensiv unter den Damenbinden und der Verkäufer beobachtete mich zunehmend misstrauisch. Ich gab die Suche dann schließlich auf und fragte beim Bezahlen nach: Zog mein leeres Tempopäckchen heraus, und für die "nez" mit Vorführung, und er kapierte sofort und brachte mir welche. Sie waren ganz oben, da hatte ich nicht hingeschaut. Aber auf alle Zeit werd ich jetzt wissen Taschentücher = mouchoirs!
Es ging erst wieder mal so eineinhalb Stunden bergaufwärts, und an einer schönen Stelle machte ich eine kleine Pause, um so eine Kleinigkeit zu erledigen, und um eine Banane zu essen und zu trinken, damit das Gewicht des Rucksacks leichter würde.
Wie ich so dastehe und hantiere, um meine Sachen wieder transportfähig zu machen, hält hinter mir ein Auto. Zwei Herren haben offenbar das gleiche Bedürfnis wie ich. So treffen die Welten wieder aufeinander.
Es ist ein Mercedes Coupé, mit Münchner Nummer. Wenn die mich jetzt mit "Bonjour" grüßen, sag ich in breitem Münchnerisch "Grüßgott", oder wenn sie mich nur anschauen. Aber sie würdigen mich keines Blickes und rauschen mit ihren ach Zylindern lautlos, aber mit ein bisschen im Sand durchdrehenden Reifen grußlos davon. O armer Pilger! Ich redete meinem frisch mit Banane und Wasser versorgtem Einzylinder gut zu, er donnerte ein bißchen und spie giftige Wolken aus, setzte sich dann aber wieder gutmütig in Bewegung.
In Gyé sur Seine überschritt ich die Seine. Sie ist hier etwa so groß wie die Chemnitz bei Göritzhain. Aber es ist halt die "Seine" und da gibt's sogar Lieder, die jeder Deutsche kennt: Paris liegt an der Seine...
Wieder eine Verlockung, reinspringen und fort nach Paris...
Aber erstens ist sie zu seicht, und zweitens ist's heute leider nicht heiß! Aber sie ist hier, wie die Chemnitz auch, ein munterer Bergfluss.
Nach Les Riceys kommend merkt man schon das Außergewöhnliche: Überall wird geputzt, geschmückt, renoviert. Einer wachst gar sein Stahl-Eingangstor ein, wie man es bei Autos macht.
Jetzt weiß ich auch warum das "Les Riceys" heißt, also "Die Riceys": Es gibt Ricey Bas, Ricey-Haute Rive, Ricey-Haut und zusammen heißen sie halt "die ...".
Und Les Riceys ist offenbar eine Metropole der Champagner-Produzenten. Man sieht es überall: Es ist viel Geld da, und sie können sich auch die Gîtes bei der Mairie leisten, wo ich jetzt Gast bin. Die alte gotische Kirche mit den Strebepfeilern verfällt allerdings.
Das Gîte ist in einem Nebengebäude der Mairie, die wie ein kleines Schloss in einem Park liegt. Es gibt hier eine Anzahl einfacher Zimmer mit zwei bis vier Betten, einen Gemeinschaftsraum mit Kühlschrank und Kochgelegenheit, auch mit dem notwendigen Geschirr, Töpfen, Pfannen. Es gibt Duschen und WCs und Waschbecken, die gemeinschaftlich benutzt werden.
Ich finde das eine sehr gute Idee, da hier auch Leute mit wenig Geld übernachten können. Erst war ich allein hier, in der Zwischenzeit ist eine holländische Familie und eine Gruppe französischer Jugendlicher eingetroffen.
Im Ort habe ich weder ein Restaurant, noch ein Hotel gesehen. Ich sitze hier bei Baguette, trockener Schweinewurst, Käse und Wein und schreibe Euch bis jetzt, Mitternacht!
Gute Nacht, noch ein paar Tage bis Vézelay!
Siegfried