04
Juni
2008

Weimar (2. Juni)

Liebe Leute,

ich kenn' mich nicht mehr aus! Die Ereignisse überrollen mich!

Ich sitze jetzt vor dem Gadthaus "zum schwarze Bären", das das älteste(!) Gasthaus Weimars sein soll. Vor mir das Rathaus, dessen Uhr verlässlich alle Viertelstunde den Winchester-Schlag tut, deren Zeiger – seit ich da bin – aber immer auf halb 12 stehen. Der Platz ist der "Markt".

Wie komme ich jetzt plötzlich hierher?

Ja, liebe Leute, ich hab den Eindruck, es meint doch jemand sehr gut mit mir. Und Eure guten Wünsche und Gedanken spielen da sicher auch eine gewaltige Rolle.

Ich bin also nach meinem besinnlichen Stündchen am kleinen Weiher im Buchenwald unter der gewaltigen Eiche weitergegangen, so nach Gefühl, Sonnenstand und bergaufwärts.

Ein netter junger Mann, der seinen Hund im Weiher baden lies, hatte mir vorher versichert, man könne sich eigentlich nicht verlaufen. Auf halber Strecke hatte ich – nach Vergleich von Sonnenstand und Karte mit den Gegebenheiten vor Ort – den Eindruck, dass hier der im Pilgerweg eingezeichnete Weg zu mir gestoßen ist. Ich war beruhigt, obwohl ich vorher eigentlich nicht beunruhigt war.

Schließlich kam ich an ein Zauntor, es war offen. Und da sah ich Die Edelstahlstelen lm Wald. Rundrohre mit ca. 12 cm Durchmesser und ca. 3 Meter hoch, die lotrecht im Wald stehen, verstreut zwischen den Bäumen. Eimal dichter, dann wieder weniger dicht. Ich war sehr berührt, da ich weiss, dass diese Stelen Massengräber kennzeichnen. Es fällt auch sofort auf, dass der Wald hier viel jünger ist als der Buchenwald unten, und dass hier vorwiegend schnell wachsende Ahorn stehen.

Das Weitergehen fällt schwer im Bewusstsein, dass hier so viele Leben so schrecklich beendet worden sind. Für was, für wen soll man da beten? Sollte ich als Wanderer (ich möchte mich nicht Pilger nennen, wie es auf dem Weg vielen all zu leicht von der Zunge kommt) durch die Wanderschaft, die mir so viel Freude bereitet, einen Verdienst erwerben, so steht es mir nicht zu, um irgendetwas zu bitten! Ich hoffe nur, dass allen, die mich im Geiste begleiten, ein bisschen von der Freude, die ich nun erleben darf, und dem Glück, das mir im Leben gegönnt war, teilhaftg werden.

Ich ging weiter hoch, durchschritt wieder einen "Gartenzaun" und stand auf der breiten Querstrasse vor der ehemaligen Einzäunung des Lagers. Es sind nur noch die Stahlbetonpfosten, verrottet, aber teils noch mit den Isolatoren der Hochspannungsleitungen zu sehen. Später las ich, der Weg war der Weg der SS-Wachpatrouille.

Am Weg war dann auch ein Kreuz und ein Hinweis auf das Speziallager der Russen, das hier von '45 bis '50 existierte. Die Stelen markierten offenbar Massengräber aus dieser Zeit. Zu DDR-Zeiten war offenbar die Tatsache unterdrückt worden, dass zu dieser Zeit nochmal 7000 Menschen starben.

Am Weg weiter komme ich am Krematorium vorbei, einem unscheinbaren Gebäude mit hohem Schornstein. Hier ist auch die alte Einzäunung wieder renoviert worden.

Wie vielen glücklichen Menschen wurde hier ein unwürdiges, schreckliches Ende bereitet. Über welche Kleinigkeiten regen wir uns dagegen heute auf. Was würden wir denn sagen, wenn Vater, Mutter, Kinder diesen Berg hinauf getrieben würden? Keiner könnte für den anderen was tun und sähe doch die Not des anderen!

Schließlich komme ich, nachdem ich einen Wachmann um Rat gebeten habe, oben auf dem großen Parkplatz an, an dem auch die beiden Jugendgästehäuser stehen, in denen ich hoffe und sicher bin, Quartier zu bekommen.

Aber NEIN! Es sei alles besetzt, sagt mir eine etwas extrovertierte Dame an der Rezeption. Ich, verschwitzt aber durchaus kampfbereit, frage ob es an meinem fortgeschrittenem Alter läge. Darauf geht sie weiter nicht ein. Auch auf meine Argumentation, dass vielleicht öfters Leute kämen, um diesen Berg der Leiden zu Fuß zu erleben, und die dann auch den Willen und die Absicht haben könnten (so wie ich), eine Nacht dort oben zu verbringen, um mit Ruhe die Orte und die Dokumentationen zu besichtigen und zu studieren, hatte sie keine Antwort.

Ich fragte sie nach der nächsten Übernachtungsmöglichkeit. Weimar! Das war nicht auf meiner Route und nicht geplant und zu Fuß wohl erreichbar aber genau in der entgegengesetzten Richtung.

Ich war stocksauer. An diesem Ort und nach den vielen vorhergegangenen Gedanken eigentlich unverständlich, aber so ist der Mensch. Ich sitze auf einer Begrenzungsmauer des großen Parkplatzes, weiter links ist eine Bushaltestelle. Studiere meine Karten, meinen Zustand: Ich habe nur eine Semmel und einen Apfel bis jetzt gegessen, es ist schon nach drei Uhr, der Himmel bewölkt sich. Der nächste Ort – Huttelstedt – klingt nicht gerade nach Unterkunft...

Da kommt der Bus und hält an der Haltestelle, ca. 50 Meter von mir. Zum hinrennen zu weit. Der Bus fährt wieder los, um den Parkplatz herum, und ich denke mir, vielleicht hat er noch eine Haltestelle bei den Häusern drüben. Wenn – dann! Und tatsächlich: Der Bus hält, der Motor wird ausgeschaltet.

Ich packe meinen Hausstand auf den Rücken und bereite mich zur Busfahrt nach Weimar vor. Der Busfahrer steht an einem Fenster des benachbarten Hauses und hält ein Schwätzchen mit einer Dame. Er sieht meinen entschlossenen Willen, den Bus zu besteigen und verweist mich an die Haltestelle, wo er mich aufnehmen würde! Ach, Du konsquentes Deutschland!

Nun sitze ich an der Haltestelle wieder auf besagtem Mäuerchen. Es kommt eine braun gebrannte ältere Dame und setzt sich neben mich. Sie fragt mich, ob hier der Bus abfahre oder drüben, wo er stehe. Ich – als inzwischen Buskundiger – kann ihr fundiert Auskunft geben.

Sie studiert daraufhin ein Informationsblatt des Lagers – auf französisch! Seit ich Wanderer bin, verlieren sich meine Hemmungen. Ich frage sie, ob sie Französin sei, nein Schweizerin! Sie erklärt und zeigt mir dann in dem Blatt die Orte, die sie im Lager besucht hat und die sie besonders berührt haben. Es sind das: das Gebäude, wo die medizinischen Versuche an Menschen gemacht wurden und das daneben liegende Lager für besodere (ich weiß die richtige Bezeichnung nicht mehr) Häftlinge (politische, Intelektuelle, Künstler usw.).

Wir reden auch im Bus weiter, und ich mache der Schweiz das Kompliment, dass alles was hier besonders schön ist, mit dem Beinamen "Schweiz-" bezeichnet wird. Sie sagt mir ein paar schweizerische Begriffe, in denen "schweiz" mit etwas Negativem verbunden ist. Schließlich verriet sie mir, dass sie mit ihrem Mann mit dem Fahrrad unterwegs sei, und der Mann das NORDKAPP(!) zum Ziel gesetzt habe. Morgen gehe es nach Dresden. Beim Aussteigen wünschten wir uns alles Gute für unsere Pläne. Ihr Händedruck war fest, sie wird es schaffen!

Nach dem Aussteigen sprach mich noch ein älteres Paar an. Ich hatte schon im Bus gemerkt, dass sie uns interessiert zuhörten. Auch sie sind mit dem Fahrrad unterwegs. Wir erzählten uns von unseren Plänen und wünschten uns gute Reise.

Nun bin ich, völlig ungewollt, aber nicht unglücklich, am Goetheplatz in Weimar. Wohin? Wolken haben sich zusammengezogen, manchmal tröpfelt es. Ich gehe dorthin wo ich die meisten Leute sehe und komme zum Theaterplatz. Und wie ich den Platz betrete, beginnt eine Blaskapelle Bach's "Wohl mir, dass ich Jesum habe..." zu spielen. Wenn das kein Empfang ist! Dazu muss man wissen, dass dies die Münchner Chorbuben bei unserer Hochzeit im St.-Anna-Kircherl gesungen haben.

Ich ging erst weiter als das Stück, das die "Neva Brass" aus St. Petersburg intonierten, zu Ende war. Und bald hatte ich um die Ecke eine Pension, hatte geduscht, war wieder runter gegangen, hatte gelesen, die Pension sei am Goethehaus, hatte auch mitbekommen: Ich logiere am Frauenplan, hatte mich vor lauter Glück in ein italienisches Straßencafe gleich vor der Pension gesetzt und Caffè und Wein getrunken und durch beobachten der Besucherführungen, die erfurchtsvoll vor einem Gebäude am Platz Halt machten, mitgekrigt, welches Gebäude das Gebäude ist, in dem Goethe gestorben ist.

Beseelt von dem Gedanken, dass vielleich Goethe die Idee gehabt haben könnte, mich nach Weimar zu rufen, um mich zu küssen.... Liebe Freunde, nur Ihr könnt ermessen, ob Goethes eventueller Kuss bei mir gewirkt hat.

Nach einem ausgedehnten Spaziergang durch das Zentrum (wobei ich insbesondere die hübsch und besonders chic gekleideten Frauen Weimars beachtet habe, die mir auch dadurch auffielen, dass sie meist mit einem möglichst großen Musikinstrument auf dem Fahrrad durch die Fußgängerzone eilen – aber auch einen Vater auf dem Fahrrad, der seinem ihm folgendem Sohn "ein Männlein steht im Walde" vorsang) sitz ich eben immer noch hier beim Schreiben dieser Email. Und inzwischen beim zweiten Glas Dornfelder vom Kloster Pforten, an dem ich vor ein paar Tagen vorrüber gewandert bin.

Ich hab noch vieles von den vorangegangenen Tagen zu schreiben. Falls ich's noch schaffe!

Siegfried

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