Spangenberg (15. Juni)
Hallo alle Ihr Lieben,
ich sitze hier vorm Fenster, vor mir die Fassade eines Fachwerkhauses und ein offenes Fenster, an dem eine junge Katze sitzt und sich putzt. Die Familie hinter dem Fenster kenne ich schon recht gut, obwohl ich noch niemanden gesehen habe. Vor allem die vielleicht sechs- bis achtjährige jährige Tochter, die es ob ihrer Stimmgewaltigkeit, die sie in regelmäßigen Abständen eifrig trainiert, sicher einmal zur Opernsängerin bringt. Vormittags hatte sie sich offenbar angestoßen was zu Carmen-gerechten längeren Passagen führte zu denen die Mutter im leisen Alt-Parlando den Widerpart spielte. Der Vater tritt nur in Nebenrollen auf und hat dann nur kurze, prägnante Schlüsselwörter im Repertoire, die aber die dramatische Handlung nicht weiter beeinflussen.
Heute war ich im evangelischen Gottesdienst, die Stadtkirche ist ja gleich um die Ecke. Eine katholische Kirche gibt es hier offenbar nicht.
Die sehr schöne und gepflegte gotische Kirche mit einem Steinaltar und der Kanzel am linken Pfeiler zur Apsis, von der der Pfarrer dann wirklich predigte – das erlebt man ja heute nicht mehr so oft – füllte sich etwa halb. Da zogen bei Orgelklang ein paar junge Leute mit einem Baby ein, der Pfarrer voraus. Alle setzten sich und waren zunächst still, sogar die Orgel. Dann stand der Pfarrer auf und sagte, dass heute Konrad getauft werden würde, und alle hätten ihn ja schon gesehen, weil ihn die Mutter beim Herreintragen stolz hochgehoben hätte, damit ihn alle sähen, sie solle es doch nochmal tun. Vielleicht war das jetzt für mich, ich hatte nämlich beim Einziehen vor lauter Schauen vom Baby nichts mitbekommen. Und die Mutter stand mit ihrem Kind im Arm auf, ging in den Mittelgang und hob stolz das Kind in die Höhe. Das war so eine einfache Handlung und doch so wunderschön.
Nach der Taufe segnete der Pfarrer mit einem eigenen Gebet auch die Mutter und legte ihr die Hand auf.
Es waren drei junge Leute, zwei waren offenbar die Taufpaten.
Trotzdem war es schön und tröstlich zu erleben, wie ein neugeborenes Kind in eine Gemeinschaft von Menschen feierlich aufgenommen wird, und wie diese Gemeinschaft dieses junge Geschöpf mit der Taufe unserem Schöpfer anvertraut, in dem uralten Wissen, dass es mit unserer Kraft allein nicht funktioniert.
Die Predigt handelte dann nach Markus soundso von "mein ist die Rache". Davon, dass man Hass mit Liebe vergelten solle, dass man auch dem Feind helfen solle und Gutes tun, denn jede gute Tat streue dem Feind "glühende Kohlen auf sein Haupt". Wenn man nur unter dem Gesichtspunkt Gutes tut, dass Gott dem Feind einst glühende Kohlen aufs Haupt streuen wird für die guten Taten, die ich ihm jetzt tue, wären die guten Taten auch nicht viel wert, aber die Welt wäre sicher friedlicher. Aber wir wissen ja, und der Pfarrer gab's selbst zu: Es fällt ihm und uns und seinem Pfarrgemeinderat sehr schwer....
Nach einem Spaziergang mit Besichtigung vieler Fachwerkfassaden mit reichem Schnitzwerk, Fassaden teils aus der Zeit der Renaissance, teils der Gotik, auf den Informtionstäfelchen zu lesen, den lesbaren Jahreszahlen auf dem Schnitzwerk nach, so um dem 30jährigen Krieg erbaut.
Ich habe beschlossen mir heute mit all den schönen Dingen, die ich gestern in einer Art Torschlußpanik eingekauft habe, selbst ein Mittagsmahl zu bereiten und so gibt's: Ciabatta mit Thüringer Sülzwurst, als zweiten Gang Romadur an Ciabatta, als Getränk zur Vorspeise Wasser vom Liebenbachquell (das heißt: aus der Leitung). Zum Hauptgang Orangensaft aus Konzentrat. Zum Nachtisch: Yoghurt mit Maracuja und Pfirsichstückchen, garniert mit Bio-Müsli mit Beeren.
Übrigens, Spangenberg hat einen Beinahmen: Liebenbachstadt.
Und das deswegen: Vor langer Zeit liebte ein armer Küferssohn des Spangeberger Bürgermeisters Töchterchen, und sie ihn natürlich auch. Aber der Bürgermeister war sauer: Er hatte sich was anderes für sein Töchterlein vorgestellt. Und da er zur selben Zeit auch politisch sehr unter Druck stand (die Gemeinde forderte eine Wasserleitung vom weit entfernten Bach in die Stadt), fiel ihm – typisch Politiker – eine preisgünstige und für ihn möglicherweise auch noch vorteilhafte Lösung ein: Er versprach dem Küfer sein Töchterchen, wenn er eine Wasserleitung von besagtem Bach in die Stadt legen würde und zwar in hundert Tagen.
Der Küfer fing gleich an und des Bürgermeisters Töchterlein half in wahrer Liebe mit. Und tatsächlich, sie schafften es! Nach hundert Tagen floss das gute Wasser des Baches in die Stadt. Die zwei Verliebten fielen sich in die Arme, weil sie ja wussten, sie würden jetzt Mann und Frau – und starben vor Erschöpfung.
Ein Brunnen vor dem Rathaus zeigt die beiden Liebenden in Bronze.
Nachmittags war ich noch auf Schloss Spangenberg und hörte wie ein Vater seinem Töchterchen beim Hinabsehen in den tiefen Burggraben erklärte: Schau, da sind Schafe drin, früher waren da Wildsäue drin.
War eigentlich ganz sinnvoll. Die Wildsäue waren sicher gute Verteidiger ihres Refugiums, des Burggrabens, andererseits schmecken sie recht gut.
Morgen geht's wieder weiter
Siegfried