Dagobertshausen (16. Juni) Homberg / Elze (17. Juni)
Guten Morgen,
heute sitze ich frisch geduscht und angezogen in einem Zimmer mit schönen alten Möbeln, wie ich sie aus aus Opas Zeiten kenne (ich hab das ja noch in Winterbach erlebt), in einem top-modernen Haus am Ortsrand von Dagobertshausen! Vor mir ein Puppenwagen aus Peddigrohr mit einer liebevoll eingebetteten Puppe mit langen Zöpfen darin. Ein Doppelbett mit hohen, profilierten Kopf- und Fußteilen, dazu passendem Schrank, Schubladenkommode mit Spiegelaufsatz und Carrara-Abdeckplatte – früher der Platz, an dem man sich an der Schüssel wusch – und auch zwei Nachtkästchen.
Und wie kam ich denn dahin?
Es war wieder ein Tag mit allen Höhen und Tiefen einer "Pilgerfahrt" (jetzt spreche ich und denke ich manchmal tatsächlich auch schon von "Pilger-") gewesen.
Morgens war ich in Spangenberg aufgebrochen, nachdem ich mich mit meinen Resten des Großeinkaufs vom Samstag verköstigt hatte – jetzt habe ich nur noch ein Stück Ciabatta und den Romadur zum Mitnehmen.
Erst gehe ich aber zum Frühstücken mit den Eltern meiner Herbergs-"eltern". So, gefrühstückt habe ich unterhaltsam und gut und weitergewandert bin ich auch schon wieder.
Und so sitze ich hier um 20 Uhr am ausgestorbenen Marktplatz von Homberg/Elze. Ein wunderschönes Städtchen mit einer imposanten, die Stadt beherrschenden Kirche in der Philipp der Großmütige, Landgraf von Hessen, am 21. und 22.Oktober 1526 die Synode gehalten hat, durch welche Hessen evangelisch geworden ist.
Ich bin um kurz nach drei Uhr in die Stadt gekommen, und in der Information haben sie mich an das Evangelische Jugendgästehaus verwiesen, wo ich alter Jahrgang unproblematisch, aber zu etwas ungünstigeren Konditionen als die Jungen aufgenommen wurde. Da habe ich nun ein Zimmer mit Bett, in dem ich allerdings im eigenen Schlafsack schlafen werde, habe geduscht und Wäsche gewaschen.
Hab einen Spaziergang gemacht durch gepflegte Gassen zwischen Fachwerkhäusern, und alle Leute sind noch begeistert vom "Hessentag", der vorgestern zu Ende gegangen ist, und von dem sie sogar in Dagobertshausen geschwärmt haben. Vom Leben an diesem Tag merkt man nichts mehr: Leider, wie gesagt, alles ausgestorben, nur Reste der verschiedenen Aufbauten stehen noch, und wie ich gekommen bin, waren sie noch sehr mit Abbauen beschäftigt.
Wie gesagt, ich sitze im Freien vor dem Hamburger Fischmarkt, es ist das einzige "Lokal", wo noch Leute sitzen. Etwas entfernt ein türkischer Pizzabäcker, aber da sitzt niemand davor. Weiter hinten eine Italienische Eisdiele, da hab ich heut Tartuffo, vorzüglich, gegessen, die hat naturgemäß zu. An der Stirnseite groß angekündigt: Ristorante, Pizzeria, da wollt ich eigentlich hingehen, aber da gibt's bloß noch selbst gebrautes Bier!
Gegenüber ist der Pizza-Walter. Der Pizzabäcker schaut immer zu uns rüber, denn niemand ist bei ihm! Vor mir schräg unter dem Tisch sitzt der lokaleigene, langhaarige Hund und schaut mich immer noch vorwurfsvoll an, weil ich ihm vorhin vom Fisch nichts gegeben habe.
So, jetzt könnt Ihr Euch in etwa ein Bild vom Nachtleben in Homberg/Elze machen. Sollte es doch noch verlockende Lokale geben (schräg gegenüber ist der älteste Gasthof Hessens) so treten sie nicht in Erscheinung. Im Gasthof kann ich nicht einmal ein Licht erkennen.
Wie traurig ist das alles! Bin gespannt, wie das in den Weingegenden sein wird, an der Lahn, am Rhein, an der Mosel. Und ich freue mich ganz unpilgergemäß auf das Essen in Frankreich und hoffe, dass ich nicht auch enttäuscht werde.
Unterwegs ist mir heute auch wieder was Nettes passiert. Wie ich im Ort wieder meine Markierungen suche, mit Hilfe von Anwohnern und systematisches Umkreisen der Kirche, hält ein roter BMW neben mir, mit tätowiertem Fahrer. Ob ich über Bad Wildungen Bescheid wisse, sein GPS führe ihn immer hier im Ort umher, aber er komme nicht ans Ziel. Ja wir waren halt in Mosheim. Dieses Rätsels Lösung blieb mir verschlossen, meinen Weg fand ich wieder.
Über den Kehrenberg 363 Meter hoch, einen zweiten Berg bin ich auch fast bis auf den Gipfel, den Mosenberg 405 Meter hoch gestiegen. Ja der Pilgerführer und seine Wegeplanung haben's in sich. Da liest man "Homberg 8 km" auf dem Wegweiser für Autos, selber lauft man aber 12! Dafür aber über Berge, bei denen sich die Autos schwer täten. Aber es sind meist sehr schöne Wege. Und die ersten Schwammerl hab ich dabei heut in einem romantischen Mischwald auch gesehen!
Zum Tag vorher: Der Weg nach Dagobertshausen. Das Wetter war gemischt, zweimal hab ich von Spangenberg bis hierher Regenausrüstung angelegt und wieder ausgezogen. Einen falschen Weg hab ich auch wieder mal genommen, aber dadurch war ich in den Genuss gekommen, ein Stück durchs Fuldatal zu wandern. Die Fulda überschritt ich dann bei Malsfeld.
Dagobertshausen! Ein eindrucksvoller und irgendwie bekannter Name! Nur hat er mit dem Dagobert, an den Ihr alle denkt, nichts zu tun, sondern mit dem Merowingerkönig Dagobert, der im siebenten Jahrhundert gelebt hat, und der den Ort und noch einen anderen gleichen Namens gegründet hat.
Hier hatte ich mich das erste Mal per Email bei einer Privatunterkunft angemeldet, aber keine Antwort erhalten. Ich rief vor dem Ort nochmal an, aber Anrufbeantworter. Macht nichts, denk ich mir, die haben ja einen Gasthof, der steht im Führer mit Übernachtungsangebot. Also optimistisch und abgeschlafft hinein in die gute Stube. Eine Dame, die mit mehreren Leuten an einem Tisch sitzt, sagt: Alles besetzt! Ich meine erst, das sei ein Witz, aber es war ernst, es sei alles belegt mit Monteuren. "Ja, wenn Sie gestern gekommen wären!"
In unheiligem Zorn (da sieht man, wie wichtig das Pilgern ist und wie weit ich noch gehen muss – wird der Weg nach Santiago da ausreichen?), verlies ich die Gaststätte und setzte mich auf eine Bank, die Gott sei Dank da stand, und telefonierte mit dem zweiten Privatquartier, das im Führer angegeben ist: Wir sind besetzt, Bekannte sind da. Dann mit dem Evangelischen Jugendwerk, Anrufbeantworter.
Nun geh ich zur Beruhigung, und um den Himmel einzuschalten, in die Kirche mit dem gewaltigen Wehrturm. Erst find ich schon gar nicht hin. Da passt schon wieder alles. Lauter Häuser drum herum. Dann find ich eine Lücke und komm in die Kirche.
Und welche Überraschung! Da gibt's an der linken Seite einen Tisch mit Stuhl und auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch und stehen ein paar Flaschen Orangensaft und Wasser und Becher. Und ein Schild: "Liebe Pilger, wir grüßen Euch, stärkt Euch, stempelt euren Pilgerpass und tragt Euch, wenn ihr wollt, ins Gästebuch ein!" (Text jetzt frei aus meinem lückenhaften Gedächtnis interpretiert). Ich hab nicht getrunken, ich hab nichts ins Gästebuch geschrieben – dafür war ich zu unchristlich zornig –, aber ich hab gestempelt: Man ist ja schließlich Deutscher. Und ich fasste wieder Hoffnung. Wenn man in der Kirche so begrüßt wird!
Vor dem Kircheneingang steht eine Glocke von 1918 und ein Stein davor. Hier ließ ich mich nieder, Rucksack abgeschnallt. Und telefonierte. Das evangelische Jugendwerk sagte nun ab: Die Räume seien voll belegt durch eine Jugendgruppe. Das Privatquartier hatte nicht zurück gerufen. Das Pfarramt war noch anzurufen, hier wird man an ein anderes Pfarramt verwiesen, also auch Pleite. Jetzt bleibt nur noch der Ortsvorsteher.
Eine nette Frauenstimme meldet sich und sagt, sie hätte mich auf dem Bankerl gesehen, und ich könne zunächst zu Erdbeerkuchen und Kaffee vorbeikommen, sie könne schon was arrangieren.
Und so aß ich einen der besten Erdbeerkuchen meines Lebens, auch einen selbst gebackenen Amerikaner, besichtigte einen top-modernen Rinder/Kuhstall und beobachtete Kühe im Melkroboter, lernte, dass Kühe, die noch nicht gekalbt haben, Rinder sind, hörte von den Problemen der Landwirte und besonders von den aktuellen Problemen des Milchpreises und sah Sauen mit ihren ganz kleinen Ferkeln.
Und dann wurde ich in das Zimmer mit dem Puppenwagen geführt, das mein Schlafzimmer für eine Nacht sein sollte, und ich war zuhause. Und nach einem deftigen Abendessen mit den Eltern der Gastgeber (dabei gab's auch selbst gemachte Wurst!), sah ich noch im Familienkreis das Länderspiel Deutschland gegen Österreich!
Liebe Leute, manchmal glaube ich doch, dass ich einen mir wohlgesinnten Begleiter habe! Wie habe ich das verdient?
Euer
Siegfried