21
Juni
2008

Stadtallendorf (20. Juni), Marburg (21. Juni)

Grüße aus Marburg, das ich gestern um sechs Uhr erreicht habe.

Jetzt ist es schon wieder gegen ein Uhr, und gerade habe ich mich vor ein Café gesetzt (Wasser, Cappuccino und Kuchen vor mir) und denke an das zurück, was ich heute hier und gestern unterwegs erlebt habe. Und wie immer fällt es mir schwer, all das, was ich gesehen und erlebt, manchmal auch "erlitten" habe, mir wieder vor Augen zu führen.

Allein aus dem Grund, mir meine Erlebnisse zu erhalten, mögen sie noch so klein und unbedeutend sein, wird dieses Tagebuch geschrieben – und dass Ihr es mitlesen könnt, ist ein kleiner Nebeneffekt, damit spare ich mir manches Kartenschreiben und ich zwinge mich, tatsächlich auch zu schreiben, damit ich mich nicht vor Euch blamiere. Denn ich habe mich schon dabei entdeckt, dem Wunsch der Bequemlichkeit nachzugeben und nicht zu schreiben.

Gestern Abend war so ein Fall: Kurz nach sechs Uhr war ich an der Info, um sechs Uhr macht sie zu. Im Führer hätte ich schon eventuell eine Pilgerunterkunft recherchieren können, aber ich wollte ja meinen Ruhetag machen und auch was anschauen und deshalb möglichst im Stadtzentrum unterkommen.

Aber immerhin, die bei der Info sind schlau: Sie haben eine Liste im Schaufenster, aus der man Übernachtungsmöglichkeiten, Preise und Entfernung vom Bahnhof(?) ersehen konnte. Das beste Haus am Platze schloss ich mal aus. Nicht nur wegen der Preise – über 100 € fürs Einzelzimmer – sondern auch wegen der für mich unerreichbar scheinenden Höhe über meinem jetzigen Platz: Das Schlosshotel.

Schnell hatte ich einen Faforiten gefunden, dessen Lage ich sogar in meinem Kleinen Pilgerführer lokalisieren konnte: Gästehaus Tuskulum. Übernachtung 38 €.

Ich ruf an, es wird nicht abgehoben. Ich suche weiter. Alles was erschwinglich ist, kann ich auf meiner Karte nicht lokalisieren, ist also für mich nicht erreichbar, zumindest psychisch, physisch hätte ich's vielleicht geschafft.

Aber kurz eine Episode aus meiner Caféumgebung: An Nachbartischen sitzt eine vierköpfige Familie. Die Straße ist leicht abfallend. Ich sitze etwas höher. Links an einem Tisch sitzt Mama, schräg ihrem Mann zugewandt, der am mittleren Tisch sitzt, schräg rechts zu ihm aber gegenüber sitzt die unter zwanzigjährige Tochter am dritten Tisch, ihr wieder dazu versetzt der vermutliche Onkel. Die Tochter und somit die ganze Familie ist mir durch einen energisch ausgesprochenen Satz: "DEIN Computer ist der Computer der FAMILIE!" aufgefallen. Nachher gings dann um die Fußballspiele.

Ich bin aber immer noch an der Info.

Es wäre natürlich ein schöner Zug der Info, auch eine Karte auszuhängen, aus der man die Lage der anbotenen Unterkünfte ersehen könnte – spielt ja selbst für Autofahrer keine so kleine Rolle. Irgendwie mit Gottvertrauen gesegnet und der sprichwörtlichen Pilgerruhe, die meine Pilgergenossin in Eckardswerda, den "Kobold" sogar durch das große Unwetter begleitet hat, wie ich später von ihr erfahren habe, rief ich bei einsetzendem Regen nochmal bei Tuskulum an und siehe da, sie haben noch ein Zimmer!

Und in zehn Minuten bin ich dort und zieh meine Feierabendkleider an und gehe raus, um ein schönes Abendessen zu genießen. Und komme an einem ansprechenden Biosupermarkt vorbei und lass mich reinlocken und beschließe, für ein Abendessen und zwei Frühstücke einzukaufen. Und kaufe halt (man darf hungrig nicht einkaufen!) zu viel ein, vermute ich. Gehe auf mein Zimmer: Es gibt Brötchen mit Leberwurst und Camembert aus Neufchatel (ideal weich), Joghurt mit Müsli und Honig! Fruchtsaft und anschließend Merlot, aus der Flasche getrunken, als Dessert eine Handvoll Datteln.

Der Wein stieg mir zu Kopfe, die Glieder waren ohnehin schon schlaff. Ich war ja an die 25 Kilometer gegangen und hatte in der Nacht nur fünf Stunden geschlafen, weil ich nach dem Fußballspiel in Stadtallendorf noch fast bis zwei Uhr nachts Tagebuch geschrieben hatte. Es wurde nichts mehr geschrieben, nur noch mit Müh und Not geduscht und ins Bett gegangen. Ja so leicht lass ich mich von Vorsätzen, hier Tagebuch zu schreiben, abbringen!

Aber heute, nach einem opulenten Frühstück aus meinen gestern eingekaufte Vorräten ging ich gleich mal zum Friseur "Essielle", der gleich gegenüber in der Straße ist, und kam gleich dran und siehe da, ich schaue wirklich wieder ziemlich zivilisiert aus.

Gestern hat mich so ein Hobbyspaziergänger aus dem nahe gelegenen Krankenhaus angesprochen mit: "Sie sehen ja aus, als kämen Sie direkt aus dem australischen Outback!"

Nach dem Friseur flanierte ich in die erwachende Innenstadt, erklomm, da ich mich beim Hinweisschilder deuten vertan hatte, erstmal die Burg, wobei mich eine Frau in meinem Alter mit Rucksack energischen Schrittes überholte und mir schon wieder entgegen kam, wie ich noch gar nicht ganz oben war.

Der Grund wurde mir oben klar. Ich war auf dem Festplatz!

Es gab einen schönen Brunnen mit einer ausführlichen Hinweistafel auf die historische Wasserleitung zur Burg. Ich umrundete den Platz. Es gibt noch was Turmartiges, aber weder eine Mögchkeit auf die Stadt runterzuschauen – überall Bäume – noch eine Sicht oder einen Hinweis auf die Burg. Das einzige Hinweisschild: WC, ist ja auch was. Trotzdem ging ich weiter, etwas unterhalb der WCs und siehe da: Gleich hinter den WCs kam die Burg in Sicht. Die eilige Wanderin hätte nur ein paar Schritte in eine Richtung machen müssen, die sie mit "Burg" nicht in Verbindung gebracht hatte.

Vorschlag an die Schilderverantwortlichen dieser und anderer Städte und an die bewundernswerten Idealisten, die die Pilgerwege markieren: Lasst mal einen Fremden vor Euch hergehen und Eure Schilder deuten, Ihr würdet Euch amüsieren, mit wieviel Phantasie Eure Schilder den fremden, manchmal müden Wanderer zu ganz anderen Orten führen als Ihr sie Euch ausgedacht habt...

Kommentare

1. Gene
Hallo Papi, falls du heute nicht Fussball geguckt hast, Spanien hat gegen Russland mit 3:0 gewonnen! Das heißt, Deutschland steht gegen Spanien im FINALE! Und der spanische Nationaltrainer hat gerade verkündet, dass er dieses Jahr noch nach Santiago de Compostela pilgern will, wenn Spanien die EM gewinnt... :o) Also wenn du einen älteren Herrn namens Luis Aragon treffen solltest, das isser... ;o) Viele liebe Grüße, Gene

2. Frida
Hallo Siegfried! Nanu? Heut ist doch schon der 26.6. und du hast seit diesem Reisebericht nix mehr geschrieben. Bist du womöglich doch ein wenig schreibfaul geworden oder gibt es einen anderen Grund? Hatte heute endlich mal Zeit und Gelegenheit ein wenig in deinem Reisetagebuch zu schmökern. Du erzählst sehr anschaulich und interessant. Es macht Spaß, dir auf diese Weise auf deinem Weg zu folgen. Melde dich doch mal wieder bei mir! Herzliche Grüße von der "ernsten Hessin"

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