Clairvaux (30. Juli)
Hallo, Ihr Wohlbefindlichen,
mir geht's im Augenblick auch wieder gut.
Gestern hatte ich wieder eine Enttäuschung hinnehmen müssen. Es war ja nicht sehr weit bis Clairvaux gewesen, aber durch geschicktes Übersehen der Abzweigung des richtigen Weges bin ich halt wieder einen Umweg von ein paar Kilometern auf der Landstraße gegangen. Am Schluss ging ich aber einen kleinen Weg von Lochamp aus, den möglicherweise "Bernhard von Clairvaux" auch schon gegangen ist.
Es gibt auch hier so Wege, wie auch um Domrémy, die die hier tätigen Personen – hier eben Bernhard, dort Jeanne d'Arc – gegangen sein sollen. Ich mach mir nur Gedanken, ob die immer so umständliche Wege gegangen sind, und vor allem ob sie beim Meditieren immer im Kreis gelaufen sind. Ich glaube, die waren schon zielstrebiger, sonst hätt's weder der eine, noch die andere so weit gebracht.
Von weitem sah ich Clairvaux schon, aber ich suchte vergeblich nach einer Kathedrale. Ich sah riesige, langgestreckte Gebäude, von einer hohen Mauer umgeben.
Da ich mich vorher nicht mit Clairvaux beschäftigt hatte, war sie mir nur ein Begriff in der Zusammensetzung "Bernhard von Clairvaux", und der war der erste große Kreuzzugprediger gewesen. Und Predigt und Kathedrale gehörten für mich zusammen. Dass er "von Clairvaux" war sagt aber, dass er aus Clairvaux kam, aber nicht zwingend dort predigte. Da seht Ihr, mit was ich mich beschäftige! Aber vielleicht kann das ja mal eine kompetente Person im Kommentar klarstellen.
Schwester Marie-Louise aus Toul (ihr kennt sie ja schon), hat mir gewünscht, dass mich die "Damen von Clairvaux" aufnehmen mögen. Und ich war mir ganz sicher, dass sie das täten, meinen abgemagerten Körper und mein verschwitztes Gesicht und Trikot vor Augen.
Aber wie in einer alten Geschichte, die ich nicht mehr genau weiß, sitzt ein Zerberus da, bei dem man sich anmelden muß. Es war hier nicht ein mitfühlender Mönch wie Bruder Stefan in Arnstein, sondern eine coole Rezeptionistin im Empfang und Shop der "Hostellerie des Dames". Der Witz war, dass ich mir unter "Hostellerie" etwas wie "Wirtschaft" vorstellte und ganz besonders optimistisch und freudig anfragte. Sie verwies mich auf eine "Gite de France", also auf Gästezimmer bei Madame soundso, bei der ich vor zwanzig Minuten vorbeigelaufen war.
Da das jetzt ein Rückweg und wegen des Essens, das man dort nicht bekommt, auch noch ein Hin-und-Herlaufen gewesen wäre, und am nächsten Tag beim Weiterwandern ein Kilometer weiter gewesen wäre, nahm ich ein Zimmer im "Hotel-Restaurant l'Abbeye" und konnte so am späten Nachmittag die Abtei wenigstens von Außen nochmals ansehen.
Es ist ein riesiger Gebäudekomplex innerhalb einer, auf der sichtbaren Seite mindestens einen Kilometer langen Mauer. Wie ich gelesen hatte, war innerhalb dieser Mauer ein ganzes Dorf – zur Versorgung der Abtei – und die Abtei selbst beherbergt. In der Vergangenheit war das sicher sinnvoll und für die Bewohner angenehm, weil sie dadurch vor den Gefahren der nicht immer gut gesinnten Umwelt geschützt waren. (Ich denke da unter anderem an die Elektrozäune um die Gersten- und Maisfelder heute.)
Heute ist das Areal offenbar sinnigerweise, wie nach den Zeiten, als die Abtei aufgelöst wurde, immer noch zum Teil Gefängnis, besonders sicher, weil es innerhalb des von der äußeren Mauer eingegrenzten Bereiches noch einen von einer inneren Mauer umgrenzten Bereich gibt. Und diese Mauer ist nachts außen beleuchtet, wie ich von meinem Fenster aus sehen konnte.
Als normaler Sterblicher ohne Eintrittskarte und als erschöpfter Pilger sieht man außer dem Eingangstor, einem alten Wirtschaftsgebäude, der Hauptfassade des großen Komplexes aus der Barockzeit und einer Kapelle, die verschlossen ist, wenig. Und zu ein paar alten Gebäuden, die von Ferne sichtbar sind, kann man nicht hingehen, weil ein Schild darauf hinweist, dass (so hab ich's wenigstes verstanden) das Gelände im Eigentum des Justizministers ist und unter Strafe nicht betreten werden darf! (Nicht wörtlich nehmen, aber so hab ich's in Erinnerung.)
Aber die Statue des Bernhard an einem Berghang über der Abtei habe ich besucht. Und da steht er nun mit ausggestreckten Armen als weiße Marmorfigur und predigt genau in den Teil der Abtei, der heute Gefängnis ist. Jetzt hab ich nochmal in einem kleinen Blättchen nachgesehen, das man am Empfang bekommt: Der heilige Bernhard hat die Abtei gegründet und bis zu seinem Tod 1153 dort gelebt.
Euer Wanderer mit verschwitztem Gesicht:
Siegfried
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