15
Juni
2008

Spangenberg (14. Juni)

Geschrieben von Siegfried | Kommentare: 0

Hallo,

Jetzt sitz ich hier beim Italiener vor einem Glas rotem Chianti und warte auf Tagliatelle DOC. Ein nettes kleines echtes Ristorante mit einer echten Italienerin!!!

Aber unter meinem Tisch steht wieder meine Landstreichertüte mit Saft, Wurst, Limburger, Müsli und einem großen Joghurt und – weil morgen Sonntag ist – einer Ciabatta.

Aber das hat eine Vorgeschichte!

Ich bin heute von Burghofen hierhergelaufen in der Absicht und mit der festen Erwartung, hier ein lebendiges, schönes Städtchen zu erleben.

Das Städtchen ist wunderschön, die Kirche ist alt und interessant: Der Chorraum ist seitlich erweitert um Seitenschiffbreite, mit einer Säule, wo sonst die südliche Wand steht. Schaut alles irgendwie original spätgotisch aus, aber das wäre noch zu klären.

Erst musste ich natürlich klären, wo ich unterkomme. Scheint alles kein Problem zu sein. Ich steh am Marktplatz, rundum ein Bild von Fachwerkstadt! Am Marktplatz ein Restaurant/Hotel (das ich mir aus Kostengründen nur im Notfall leisten wollte) und ein Ratskeller!

Und eine Information, die allerdings geschlossen hat: Es ist ja Samstag 16 Uhr. Nun telefoniere ich mit Gasthöfen, die aufgeführt sind. Das Hotel auf der Burg schließe ich aus. Irgendwo muss man ja schließlich zu sparen anfangen (Einzelzimmer ab 65 €).

Der erste Gasthof: Nicht abgehoben.

Der zweite Gasthof: Die Nummer ist uns nicht bekannt.

Die erste Privatunterkunft in Stadtzentrumnähe: Es wird nicht abgehoben.

Die zweite Privatunterkunft in Stadtzentrumnähe: Der Anschluss ist uns nicht bekannt.

Nun ging ich auf den Marktplatz, um doch im Hotel am Platz einzuchecken, und stellte fest, dass es das Hotel nicht mehr gab – Fassade und alles Drum und Dran waren allerdings noch da.

In dem Unterkunftsverzeichnis war eine Adresse Markt 4, da hatte aber die Telefonnummer nicht gestimmt. Also suchte ich das Haus. Ein altes Gebäude, schieferverkleidet, mit einer mindestens zehnstufigen Freitreppe. Eine Herausforderung, wenn man schon mehr als 17km auf Bitumen, auf Feldwegen, im Wald über Baumzweigenreste und einmal kriechend unter einem gefällten Baum sich fortbewegt hat, zweimal Regenzeug über sich und den Rucksack gestülpt hat, dafür aber erst einen Apfel und ein paar Schluck Wasser seit dem (allerdings recht üppigen) Frühstück genossen hat.

Die Treppe war geschafft, und was seh ich da? Pilger willkommen! Großes Aufatmen. Ein junger Mann öffnet und sagt mir, ich solle im Haus schräg gegenüber klingeln, da wohne die Besitzerin. Dort telefonierte der junge Mann gleich mit seiner Mutter und postwendend hatte ich den Schlüssel für ein nostalgisches Zimmer Am Markt 4! Mit Gemeinschaftsklo und Gemeinschaftsbad und einer Waschschüssel mit Krug auf der Kommode.

In einem kleinen Schreiben klärt der Hausherr auf: Dies ist das Haus meiner Eltern und Tanten, haltet es in Ehren! Das kostet 20 € incl. Frühstück, das man in der benachbarten Bäckerei bekommen soll.

Nun wird erst einmal die Wäsche gewaschen, die war nämlich schon überfällig, sonst hab ich nichts mehr zum Wechseln. Ja Leute, das Leben der Wanderer ist schwer: Hab ja nur drei U-Hosen dabei! Dann raus zum Abendessen!

Ratskeller geschlossen – für immer! Restaurant gegenüber (das kennen wir schon) gibt's auch nicht mehr.

Ich gehe die schöne Hauptstraße hinunter. Eine Pizzaria – man beachte das "a" in der Mitte – nicht besonders verlockend. Eine italienische Eisdiele: verlockend, aber ohne Gäste, aber wird in meinem Hinterstübchen vorgemerkt für ein eisförmiges Abenddiner. Ein Bistro ohne Gäste. Ein Döner, an der Fassade grell-farbig markiert: Da könnte ich mir einen Döner reinschieben, hab aber keine Lust dazu. Beim Weitergehen komme ich in einen kleinen hübschen Stadtpark und werde am Ufer der Pfiefe, an der ich ja heute entlang gewandert war, über Fischleitern aufgeklärt.

Auch an einen großen Parkplatz komme ich und einen Edeka-Markt, der bis acht Uhr auf hat, und da versorge ich mich für heute und morgen, meinem erholsamen Ruhesonntag!

Und all das steht jetzt in einem italienischem Restaurant unter meinem Tisch und ich überlege nun wie ich alter optischer Penner mit der Tatsache zurechtkomme, einerseits von der Existenz eines guten italienischen Restaurants zu wissen, andererseits von der Existenz einer gefüllten Edekatüte, die ich am Montag kaum mittragen werden kann. Aber Herausforderungen sind dazu da, gelöst zu werden.

Das Restaurant zeigte mir der Gelateriste, den ich nach einem guten Essen fragte. Das Ristorante liegt seiner Gelateria direkt gegenüber, ich hatte es einfach übersehen. So kam ich doch noch zu einer stimmungsvollen Umgebung zum E-Mailschreiben. Denn die E-Mails schreiben sich besser beim Wein und in gemütlicher Umgebung.

Nach einem opulenten Frühstück im Hotel heute früh wurde ich freundlich verabschiedet und ich bekam auch einen schönen großen Hotelstempel in meinen Pass. Und ich versprach, aus Santiago eine Karte zu schicken und mir wurde der Ehrenplatz dieser "Karte in spe" an der Wand im Restaurant gezeigt. Siegfried, Du kannst nicht mehr zurück!

Die Wanderung heute bot alles was eine Wanderung bieten kann: geteerte Wege, gepflasterte Wege, Sandwege, Fahrwege, begraste Wege, Fortwege auf denen Langholz verzogen worden war, Forstwege die mit Kleinholz und Zweigen übersäht waren, Wege, die von gefällten Bäumen überbrückt waren, Sonne, Regenschauer, Sturm. Auch verlaufen hatte ich mich, merkte es allerdings nach ein paar hundert Metern und nachdem ich Landschaft, Strasse, Bachlauf verglichen hatte, war ich zunächst der Meinung, meine Karte stimme nicht!

Ein paar Buben klärten mich auf: Nun musste ich feststellen, die Karte stimmte doch! Irgendwie beruhigend. Beunruhigend ist allerdings, wie schnell und gern man animmt, andere hätten Fehler gemacht, von der Fehlerfreiheit des eigenen Handelns allerdings voll überzeugt ist! Wie im richtigen Leben. Nur dass man das beim Wandern – hoffentlich – schneller merkt, und wenn nicht, wirklich selber ausbaden muss.

Ein bisschen hat sich das linke Bein wieder gemeldet, war doch ein bisschen anstrengend, aber insgesamt bin ich fast schmerzfrei! Manches Mal geht mir richtig ab, dass ich von den Fußsohlen nichts mehr merke!

Da kommt man sich schon fast wie ein Vergnügungsreisender vor. Vor allem wenn man sieht und hört, wie verbissene Auto- und Motorradfahrer ihre Motoren hochjagen, um ja möglichst schnell ans Ziel zu kommen. Das kann ich dann kilometerweit hörend mitverfolgen.

Ich hoffe, dass meine Anstrengungen nur in allernächster Nähe und da von niemandem gehört werden!

Da segt's, was ich für Sorgen habe!
Euer Siegfried, der seine schmerzlosen Fersen geniest

15
Juni
2008

Hoheneiche (12. Juni), Berghofen (13. Juni)

Geschrieben von Siegfried | Kommentare: 0

Hi, Ihr Lieben,

ich bin natürlich schon wieder einen Tag zu spät dran, aber heute läßt's sich gut an: Ich sitze jetzt in einem Hotel (HOTEL!) in Berghofen. Noch nie gehört? Ich auch nicht, aber der Ort hat das Hotel, und das steht als "Gasthof zum Stern" im Pilgerführer und gibt "Pilgern" Pilgerrabatt. Das ist das Richtige nach der echten Pilgertour durch den Ringgau.

Hatte mich zwei Tage nur katzenartig am Waschbecken und nur mit kaltem Wasser und ohne Waschlappen (nicht dabei wegen Gewichtsersparnis), gestern nur knieend in einer Badewanne unterm Dachjuhe gewaschen, wobei trotzdem das ganze Bad auch so mit nass wurde, dass die Handtücher schon feucht waren bevor ich sie benutzte.

Heute war ich schon nach einer leichten (so schien es mir) Wanderung so gegen 14 Uhr im Hotel. Ich hatte mich vorher angemeldet. Und auf meine Frage nach Kaffee, sagte die nette Dame an der Rezeption: Ja, haben sie, aber ich solle doch erst meine Füße ein wenig hoch legen.

Nun bezog ich mein Zimmer, machte die Türe zu und fühlte mich wie zuhause. Nach den Herren beim Bier in meinem Schlafzimmer in Creuzburg, der Jugendheimstimmung in meinem Schlafzimmer in Netra, dem Schlafen auf Klappbett oder Matratzen im Schlafsack, dann dem allerdings schon recht schönen Zimmer mit echtem Bett und Bettwäsche in Hoheneichen, aber mit dem Schräguntermdachohneduschvorhangdafürmitschiebetürbadwc.

Und dann wird mir liebevoll gesagt, ich solle die Füße hochlegen! Ich aß im Zimmer, irgendwie war ich nun auch hungrig. Ich packte meine beiden, vorgestern abend frustriert in Netra gekauften Brötchen, die ich nicht mehr auf dem Anger-Bankerl essen konnte, weil ich ja beim Ortsvorsteher und seiner Frau zu abend dinieren durfte, aus, dann meine vorgestern Abend in Hoheneiche gekaufte Quarkkäsezubereitung mit Kräutern und genaß, bei einem Schluck aus meiner Wanderpulle mit Wasser aus Hoheneiche das Leben.

Anschließend gab's Joghurt mit Müsli von "Ja". War alles fürs gestrige Abendessen vorgesehen, aber da war ich ja bei meiner Hauswirtin im Regen in der Laube bei Grillwürstchen und Kartoffelsalat zum Fernsehen eingeladen! Deutschland gegen Kroatien!

Der Grill stand etwa 20 Meter entfernt im Regen und qualmte, und sie davor mit Regenschirm. Wir, ihr Mann, eine junge mollige Frau, die ihr sechswöchiges Kind stillte, ein kleiner Junge (für Bayern: Bub) und der dazu gehörige Vater.

Die Polin und ihr Mann haben keine Kinder und schließen offenbar dafür ganze junge Familien in ihr Herz. Ich hatte mit der Polin kurz darüber gesprochen.

Sie rannte nun immer vom Grill weg zu uns unters Dach zum Fernseher und regte sich lautstark auf über das Spiel der Deutschen auf, gab den einzelnen Spielern Anweisungen (sie hatte ja schließlich die Laube "schwarzrotgold" beflaggt) und kommentierte lautstark, während die Männer mehr oder weniger unbeteiligt bei ihrem Bier saßen. Und sie erkannte schon frühzeitig, dass die "Ärsche" heute verlieren würden.

So verging der Abend stimmungsvoll, etwas kühl, mit Grillwürsten und Bier, dann Wein, den ich gestiftet hatte, aber nur der Hausherr mittrank und einer saueren Hausherrin mit viel Temperament, die auf die deutsche Mannschaft "sauer" war, aber ihre herzhafte "kracherte Art" trotzdem nicht verloren hatte.

Sie war vor 30 Jahren nach Deutschland gekommen, wegen ihres Mannes, und noch heute verabschieden sie sich nach dem Früstück mit einem hörbaren Kuss! (Allein das war mein Frühstück um halb sieben Uhr wert!)

Heute früh, nach dem frühen Frühstück und einem herzhaften Abschied (ohne Kuss!) ging's für mich dann um acht Uhr weiter.

Das Ziel – das hiesige Hotel – hatte ich schon frühzeitig in meinen Plänen vorgesehen.

Zunächst hatte ich, wegen der Kälte, unter mein Trikot ein Unterhemd angezogen aber bald merkte ich, dass mir trotzdem nicht warm wurde. So zog ich nun zum ersten Mal meine dritte Schicht, die Regenjacke, an.

In Bischofen, eigentlich ein ganz kleiner Ort, war ich überrascht über die reichen und sehr gut restaurierten Fachwerkhäuser. Darunter fiel mir besonders ein Haus mit herausgezogenen Ecken auf.

Das müsst Ihr Euch so vorstellen: Den Hausherr haben immer gerade die Dinge vor seinem Haus am meisten interessiert, die genau übereck vor seinem Haus passierten. Und da hat er am meisten rausgeschaut und hat sich an die Wand gelehnt und da ist das Eck immer mehr nach aussen gewandert, so dass die Ecken nun ganz ausgebuchet sind nach außen. Und weil das die einfachen Leute natürlich nicht so gemacht haben, sondern nur die "besseren" ist das das Junkerhaus.

Es könnte natürlich sein, dass er nur nach einer Seite so intensiv rausgeschaut hat, und um die Richtung zu vertuschen die anderen Seiten.....

Das sind so Gedanken, wenn man vorüberzieht.

Da in der Kirche Festbeleuchtug zu erkennen war, ging ich hinein. Die Küsterin staubsaugte, und ich unterhielt mich gut mit ihr und trug etwas Weises ins Gästebuch ein, in der Hoffnung, dass das nur Gott, der mich – hoffentlich – liebt, liest und sonst keiner.

Die Wolken zogen sich immer mehr zusammen und ein Unterstand mit Tisch und Bänken kam in Sicht: für Biker las ich an einer Informationstafel, und da standen auch Übernachtungsmöglichkeiten im hinter mir gelassenen Ort drauf. Sind Biker noch besser organisiert als die Walkers, wie ich einer bin?

Ich entschloss mich, das erste Mal die "mittlere Regenausrüstung" anzulegen, also zur Regenjacke auch noch die Regenhülle für den Rucksack. Beim um die Ecke gehen, was ja auch mal sein muß, sah ich eine große Ansammlung von wohlgenährten Weinbergschnecken am Wegrand. Da läuft einem glatt das Wasser im Munde zusammen. Aber da muss ich wohl erst noch ein paar hundert Kilometer laufen, damit diese Vision Wahrheit wird. So in Knoblauchöl zu frischen, knusprigen Baguettes...

Regenausrüstung perfekt, ich bin fertig zum Weitergehen. Was seh ich da? Über mir blauer Himmel! Aber kurz darauf fing's an – und zwar heftig. Und meine Hose natürlich gleich pitschnass! Ich hatte ja, um noch eine Steigerung zu haben, meine Regenhose nicht angezogen.

Kapuze auf dem Kopf, Kopf tief gebeugt gegen den Gegenwind und die großen Tropfen (manchmal kamen sie mir wie Hagel vor) kämpfend, an den Kobold von Eckardsberga denkend, der einsam gegen abend in so ein Gewitter geraten war und von dem ich seit ein paar Stunden wusste, dass er das Unwetter heil und angstfrei überstanden hatte. Sie hatte das auf ihre Erfahrungen beim Alleine-Gehen auf dem ökumenischen Pilgerweg zurückgeführt. Wie sollte da ich – Mann – jammern können?

Der Regen war auch gleich wieder vorbei, die Hose trocknete wieder, dann regnete es wieder und die Hose wurde wieder nass. So kam ich schließlich nach Waldkappel, lief durch den Ort und besuchte die Kirche und auch einen Superkleinensupermarkt und fragte nach einem Löffel. Ein Mann mit Bart, einem Rucksack und einer nassen Hose.

Leider hatten sie keinen einzelnen Löffel in Metall, wie ich mir das vorstellte, sondern nur 20er-Packungen, die größeren zu 1,19 €. Die Dame meinte, die wären wohl für mich die geeigneteren, weil ich ja vielleicht auch Suppe essen wolle... Ich nahm dann doch die kleineren, weil ich ja noch einen Joghurt im Rucksack hatte, ja und wegen der Gewichtsersparnis. 20 Löffel wollen ja auch getragen werden!

Auf meine Frage nach Papiertaschentüchern kam der Geschäftsinhaber zur Beratung. Er stellte fest, dass sie nur diese Riesenpackung Tempos haben. Was soll ich mit der Packung in meinem Rucksack, und da ich zur Zeit recht wenig schneuze, dauert das ja ewig!

"Kommen Sie mit", sagte er, und gab mir eine Einzelpackung, "die schenke ich Ihnen". Ich sagte, das sei wieder zu wenig, er solle mir ein paar mehr geben, ich würde sie gerne zahlen. Da gab er mir eine zweite Packung: "Ich schenk Ihnen beide!"

Das war Waldkappel. Als ich aus dem Ort rauskam, lief ich in der Nähe des Campingplatzes vorbei, und da war ein Treffen von Pferdeliebhabern: also Reitern, Kutschern usw. mit allem Drum und Dran...

Da dachte ich mir, was doch die Leute so alles brauchen, um glücklich zu sein: Ein dickes Auto mit Hänger fürs Pferd und auch noch für die Kutsche, ein Motorrad oder einen Smart für die kleinen Strecken zum Bäcker und so, wenn das große Auto wo steht, ein opulentes Zelt, eine fesche Reiterausrüstung usw.

Aber es ist gut so. Wie langweilig wäre es, wenn alle bloß so rumlaufen würden wie ich und Schnecken betrachten, die die Radwege kreuzen. Muss dann immer aufpassen, dass ich keine erwische und zertrete oder aufspieße, bin ja schließlich 4-füßig unterwegs. Am Morgen laufen die Schnecken besonders gern über die Radwege – wenn ich komme auch Pilgerpfade genannt.

Unklar ist mir, warum die einen von Nord nach Süd, die anderen aber genau umgekehrt laufen. Aus den Schulbüchern (mein ich jedenfalls), weiß ich, dass sie nur von Ost nach West laufen. Und dann gibt es noch ganz schlaue: Die laufen tatsächlich nach Westen, so wie ich, aber die Straße verläuft nach Westen und ist wohl für eine Schnecke fast unendlich, es sei denn, es kommt eine Kurve.

Es gibt auch Schnecken, denen Essen über alles geht, und die tun sich dann gütlich an den Kadavern ihrer bei einer Kollision mit einem Fahrrad oder einem Pilger unterlegenen Artgenossen. Nicht bedenkend, hierbei das Schicksal geradezu herauszufordern.

Heute habe ich das erste Mal seit meiner Jugendzeit wieder ein Getreidefeld gesehen, "verunkrautet" mit Korn- und Mohnblumen! Ich bin stehengeblieben und habe mich einfach glücklich und froh gefühlt.

Gestern auf der Wanderung von Netra her sah ich von weitem eine Person, die vom Boden aufstand und sich mit etwas beschäftigte, was noch am Boden lag, das war blau. Aha, dachte ich mir, jetzt triffst du auf einen Wanderer. Es war nicht zu erkennen, ob Frau oder Mann. Schließlich war das, was am Boden war, aufgehoben, und ich sah, auch das war ein Mensch. Beide kamen mir entgegen: Ein Mädchen mit vielleicht 15 Jahren, mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht, freundlich grüßend, und ein zweites Mädchen, etwas jünger, die Zunge bis unters Kinn unbeweglich herausgestreckt, mit stierem Blick mich ansehend, aber auf meinen Gruß auch mit einem Laut reagierend. Was gibt es alles für Glück und Unglück in der Welt, und wie wenig ist Glück mit dem verbunden, was wir Haben und Erfolg nennen.

So glückliche Augen habe ich bei kaum einem Menschen gesehen, dem ich die letzten Tage begegnet bin. Am wenigsten bei denen, die hochtechnisiert durch die Welt autofahren oder radeln und verbissen ein Ziel ansteuern, das sie auch nicht glücklicher macht. Oder bei jenen, die durch die schönsten und würdigsten, jahrhundertealten Kirchen gehen und demonstrativ, die Hände in den Taschen, gelangweilt, eventuell auch eifrig fotografierend oder diskutierend, ihr Desinteresse am Sinn des Ganzen dokumentieren. Wie selbstsicher oder dumm müssen Menschen sein, wenn sie den Glauben, die Weisheit, das Wissen, die Erfahrung all unserer vorangegangen Generationen nur noch als Episode abtun.

Manchmal auch nachdenklich
Euer Siegfried

13
Juni
2008

Netra (11. Juni)

Geschrieben von Siegfried | Kommentare: 1

Freunde!

Ich glaub's nicht, was ich heute wieder alles erlebt habe.

DAZWISCHEN NACHT, ICH KONNT NICHT MEHR SCHREIBEN!

Jetzt ist aber schon der nächste Tag, also der 12. Und schon wieder sechs Uhr, und ich muss jetzt gleich mit meinen Herbergseltern Fernsehen schauen: Deutschland gegen Kroatien oder so.

Und ich muss schnellstens den gestrigen Tag dokumentieren, bevor ich die Details vergesse. Den Tag allerdings werde ich nie vergessen!

Also, wie ich am Vorabend (das ist der Abend vor dem gestrigen Tag) so um dreiviertel zehn Uhr abends vom Essen und E-Mail-Schreiben im Gasthof in mein "Pfarrheim-Nachtquartier" zurück kam, saß da noch eine gestandene Männerrunde beim Bier in meinem Schlafzimmer in spe. Die dazugehörigen Damen waren schon heim gegangen.

Da ich sie nicht gut auffordern konnte, mein Schlafzimmer zu verlassen, setzte ich mich zu einem Bier dazu. Und nun wurde diskutiert: über Fußball, über Autos – hier gab es die Version, dass BMW vor EMW da gewesen wäre – und über die Vor- und Nachteile der DDR-Autos. Es war auch ein russisches Modell "Zwrtorschtow" oder so ähnlich in Eisenach gebaut worden, das einer der Herren einst besessen hatte, weil die Lieferzeit kürzer als bei den deutschen Modellen war. Herausragendes Merkmal dieses PKWs: Von außen klang es wie ein Panzer, von innen war es ruhig wie ein BMW.

Schließlich verließen mich die Herren, und ich richtete mein Klappbett her. Es hätte auch Matratzen gegegeben, aber die sind für einen älteren Herrn unbequemer von wegen des Aufstehens.

Als ich mich, gut ausgeruht (ich hatte ja am Abend zwei Weißbier und ein Pils getrunken) am Pfarrhaus zum Abschied meldete, öffnete mir die nette Pfarrerin mit einer brennenden Kerze in der Hand, überreichte mir die Kerze und gratulierte mir zum Geburtstag. Die Herren hätten ihr das noch zugetragen. Ich hatte das offenbar bei der Ratscherei verraten!

Die Kerze ist rot und in Form einer Rosenblüte, hier wird sie Elisabethkerze genannt. Dazu gab sie mir noch eine Karte mit guten Wünschen und zum Tag passenden Bibelsprüchen. Ja und ein kleines Tonfischchen, das der Töpfer von der Creuzburg gemacht hat. Sie machte extra ein Bändchen dran, so kann ich es jetzt am Hosenbund tragen. Habe mir vorgenommen, sollte ich es bis nach Santiago tragen können, würde ich es Ihr wieder bringen. So schön ging mein Aufenthalt in Creuzburg zu Ende. Nach einem kleinen Frühstück in der Bäckerei ging's weiter Richtung Netra, das mein heutiges Tagesziel sein sollte.

Laut Führer rechnete ich dort einen Gasthof zum Übernachten und zum geburtstäglichen Festschmaus vorzufinden.

Aber zunächst verlief ich mich mal hinter Ifta. Ich hatte mir ausgiebig die Kirche angesehen, die 1740 erbaut und farbenfroh im Bauernbarock ausgemalt worden ist, wie der Führer erzählt.

Als Bayer tauchen da im Hinterstübchen all die Barockkirchen auf, die in der Welt (für den Bayern ist Bayern DIE Welt) rumstehen: die Wies, s' Asamkircherl, Niederding oder auch das Kircherl in dem Geneviève und Torsten geheiratet haben.

Und jetzt komme ich in eine Kirche mit einer Holztonne als Gewölbe, ziemlich dunkel gestrichen, mit Spruchbändern und Bildern in Kasetten. Besser lässt sich die Lebenslust der Bayern und die Ernsthaftigkeit der Mitteldeutschen, aber auch das Verhältnis dieser Menschen zu Religion, Jenseits und Lebensverständnis, nicht dokumentieren.

Nun auch geistig frisch gestärkt ging ich wieder auf den Weg und fand die Markierungen nicht mehr. Anstatt zurückzugehen, fragte ich und bekam erschöpfende Auskunft, trotzdem stand ich plötzlich an einer Stelle, wo selbst ich erkennen mußte, dass es nicht die richtige war. Aus dem Führer konnte ich vage meine Position bestimmen, aber eben nur vage. Um mich herum relativ kleine, niedrige Hügel mit heideartigem Bewuchs. Erst dachte ich, es seien Hochmoore, stellte dann aber fest, dass es Sandhügel aus einem grauen, feinsplittartigem Material waren.

Für was hat der Mann GPS!

Also endlich die Gelegenheit.

Nach einigem Hin und Her (einer von uns zweien stellt sich immer erst ein bisschen an) zeigte mir das Gerät mit einem Pfeil eine Richtung an (diese hatte ich auch schon anvisiert, war aber nur ein Pfad) und bemerkte dazu: 300 Meter Feldstraße.

Also ich ging weisungsgemäß, kam über ein Fußgängerbrückchen aus Holz und war wieder auf einer Straße (ein besserer geteerter Radweg, also keine Straße für Autofahrer).

Nun fragte ich wieder meinen schlauen Begleiter: und nun wurde er gesprächig. Ich solle genau in die von mir als richtig erkannte entgegengesetzte Richtung gehen dann B-soundso, Landstrasse-soundso usw. Frage mich nur, wie ich mein Auto – davon ging er ja wohl aus – durch den Pfad und über das Brückerl...

Ich kam schließlich in Netra an! Und freute mich auf einen Kaffee und einen Geburtstagskuchen.

Café sah ich, Gasthof, einer wenig vertrauen erweckend, der andere gepflegt sah ich. "Alles geritzt", dachte ich. Und um den Ort kennen zu lernen ging ich auch noch zur Kirche, die einen sehr eindrucksvollen Turm mit einer großen Spitze und daran angesetzten vier kleinen Türmen hat, und das alles auf einem gewaltigen quatratischen Mauerwerkskörper.

Seitentür verschlossen. Hintere Tür, man muss ein paar Stufen hochgehen, ein Zettel: Schlüssel gegenüber. Während ich so rumsehe und überlege (hab ja noch alles auf dem Buckel), spricht mich eine Frau an und sagt, die Türe wäre offen. Und ob ich ein Quartier brauche. Nein, sage ich, heute nicht, ich gehe in den Gasthof. Und nun erklärt mir die nette Frau (es stellt sich heraus, es ist die Pfarrerin), dass es keine Zimmer zum Übernachten im Gasthof mehr gäbe. Also deponiere ich meinen Rucksack wieder im Pfarrheim und mache mich auf zum Festschmaus.

Café: Mittwoch Ruhetag! Haben wir heute!

Wirtschaft: Der alte Wirt steht einsam in seiner düsteren Schankstube vor dem Fernseher und schaut mich wie den Mann vom Mond an. Auf meine Frage – Essen? – nur ein verständnisloses "hom mo nöt".

Es war ein wunderbarer, sonniger, lauer Sommerabend, da zog der gerade erst 70 gewordene Siegfried mit einer Plastiktüte auf den kleinen Dorfplatz, auf dem ein Tisch mit zwei Bänken unter einer Linde stand.

Er aß zwei Frikadellen (von der Metzgerin angepriesen und wirklich gut), ein Brötchen und entkorkte eine Flasche Rosé. Dazwischen las er all die lieben Emails, die er sich gerade runtergeladen hatte und telefonierte mit seinen Lieben. Der Wein wurde weniger, die Stimmung gelöster. Er versuchte nun auch mit der Nachbarin im an "seinen" Dorfplatz angrenzenden Grundstück, ins Gespräch zu kommen und zu erklären, dass er....

Die Stimmung stieg, die Telefonate wurden angeregter, plötzlich stand ein Mann in besten Jahren – von meinen mal abgesehen – am Tisch und sagte, er wäre der Ortsvorsteher. "Auweh!", dachte ich mir. Aber dann lud er mich zu einem Bierchen ein – aber nicht in besagte Wirtschaft: Ich fuhr mit dem Auto mit zu seinem Haus hoch über Netra, und siehe da, meine Nachbarin von vorher war seine Frau. Und einen Sohn von eineinhalb Jahren haben s' auch. Und der Schwiegerpapa war auch da, und es gab Nizzasalat wie zu Hause und frisch aufgebackene Baguettes und Rotwein und ausgiebige Gespräche auf der Terrasse.

Müde und mich wohlfühlend ging ich in mein heutiges Zuhause, das Martin-Luther-Haus von Netra, in der Jacke des Hausherrn zurück.

Hecktisch suchte ich mein Messer, das ich bei Aufräumen vermisste, und fand es nicht, wusch meine Unterhose und legte mich im Schlafsack auf die Matratze.

WAR DAS NICHT EIN SCHÖNER GEBURTSTAG?

13
Juni
2008

Creuzburg (10. Juni)

Geschrieben von Siegfried | Kommentare: 1

Nach einer heute weitgehend im schattigen Hörschel- und dann Werratal genossenen Wanderung bin ich so gegen halb vier Uhr in Creuzburg eingetroffen.

Die Pfarrerin begrüßte mich freudig (wir kannten uns ja schon vom Telefongespräch vom Vormittag, als ich mich angemeldet hatte), wies mir gleich meinen Schlafplatz im Gemeindesaal zu und labte mich mit einem Glas kühlen Wassers.

Allerdings kann ich mich heute erst zur Ruhe begeben, wenn die Chorprobe zu Ende ist. Aber früher geh ich sowieso nicht ins Bett.

Die Creuzburg ist schon ganz was Altes und war auch schon zu Elisabeths Zeiten alt, mehr als hundert Jahre. Hier hielt sie sich gerne mit ihrem Gemahl auf, hier verabschiedete sich ihr Gemahl zum Kreuzzug, von dem er nicht wieder zurückkam, und hier gebahr Elisabeth ihre erste Tochter.

Der Name Creuzburg wird darauf zurückgeführt, dass Bonifatius, der Heilige, hier im Burghof ein Kreuz errichtet haben soll. Zum Andenken daran, steht auch heute noch ein Holzkreuz im Hof.

Reinkommen in den Ort tut man über eine Sandsteinbogenbrücke. Sie soll die erste Steinbrücke nördlich des Mains sein. Am stadtabgewandten Teil der Brücke steht eine Kapelle, auffallend schlank und hoch. Sie ist dem heiligen Librandus geweiht, einem Bischof von Metz (da komm ich auf meiner Wanderung auch noch hin), der bei Steinleiden helfen soll. Natürlich haben die Nazis bei ihrem aussichtslosen Rückzug die Brücke gesprengt und sinnvollerweise auch gleich die Kapelle mit zerstört, so dass wir heute nur eine Rekonstruktion sehen und betreten können. (Leider zur Zeit eingerüstet)

Die Stadtkirche scheint auch romanisch gewesen zu sein, aber alles über eineinhalb Meter Höhe gibt's innen offenbar nicht mehr. Außen sieht sie irgendwie noch komplett aus, die Kirche.

Anmerkung: Jetzt sitz ich schon auf dem dritten Bankerl hier im Schlosshof, und kaum sitz ich, schleichen sich Ameisen von allen Siten an und postwendend juckts mich vorne, hinten oben und unten, sogar an der Nase!

Im Chorraum gibt es an der Außenwand eine nur ca. ein Meter hohe Säulenreihe mit teils erhaltenen romanischen Bögen. An beiden Enden des Chorraumes sieht man reich gegliederte Säulenfundamente. Alles Alte außer dem: Nicht mehr da. Der Kirchenraum ist modern und sehr einfach – bei Verwendung von dunkelgrauem Material – wieder hergestellt worden.

Bei der Wanderung hielten zwei entgegenkommende Herren (genauer: Männer) auf Fahrrädern, tourenmäßig perfekt ausgerüstet, an und redeten mich an.

Erst interessierte sie sicher die Figur – mich – am Wege, dann stellte sich heraus, dass der eine aus München, der andere aus Landshut stammt. Sie machen eine Tour an der Werra entlang und erkundigten sich ausgiebig über meinen Weg. Später kurz vor Creuzburg kamen sie von hinten und wunderten sich, dass ich schon so weit sei.

Hier gibt's jetzt auch viele Sportradler. Die schauen stur vor sich hin, quälen sich offensichtlich, grüßen nicht und werden auch nicht viel von der Umgebung wahrnehmen Ich frag mich nur, für was die das machen. Alt werden die auch und dann haben's vom Leben nichts gehabt! Habe übrigens auf der Wanderung so viel von den Caffè-Orgien bei Lars und Chantal erzählt, dass sich sicher einmal ein paar nette Damen aus Hamburg oder Berlin zu Espresso und Weißwürsten melden werden! (Bäh, aber nicht gleichzeitig! Ansonsten immer gern. Die beiden Cappuccini eben waren wieder mal... hach... Anm. d. Red.)

Auch einen Wanderer wie mich hab ich heute getroffen, und der machte im gleichen "Großraum" wie ich Pause. Das war bei einer historischen Kupferschmelze (ja, das haben die damals auch da gemacht!), irgendwo südlich vom großen Opelwerk Eisenach, das man von weitem sehen konnte.

Er kam an, muskulös, braun gebrannt, Kleidung, Kopfbedeckung und (ich glaube) auch Rucksack SCHWARZ! Sozusagen ein Ausbund von Design und Kraft. Da saß er nun, und rauchte. Und als ich ging machte ich eine – allerdings nur kleine – Ehrenrunde, grüßte und fragte wo's denn hingehe – hätte ja sein können, dass wir das gleiche Ziel haben. Er blickte in die Luft und zog an seiner Zigarette. Wenn er ein Pilger sein sollte, scheint sein Weg noch weit, sollte er ein Sportler gewesen sein, steht er nicht gerade für sportliche Tugenden wie Gesundheit und Fairness.

Dann sah ich auch mal wieder ein radelndes Ehepaar kurz vor Creuzburg. Der Weg bog links von der geteerten kleinen Strasse in einen Feldweg ab. Die Frau fuhr in den Feldweg, er war markiert und auch in meiner Karte eingetragen. Der Mann hielt an. Vor sich, vor dem Lenker eine DIN-A4 große Karte montiert, davor ein GPS-Gerät. Ein zweiter Sportfahrer hielt an, und ich hörte sie rege über den weiteren Streckenverlauf diskutierten.

Die Frau war nach hundert Metern stehengeblieben und wartete. Ich kam vorbei, wir unterhielten uns nett über Reiseziele, dann ging ich weiter. Erst nachdem ich weitere mehr als hundert Meter gegangen war, kamen die Experten – der Mann immer noch fasziniert auf die Karte oder das GPS vor sich starrend.

Münchner, wisst Ihr eigentlich, dass die von Euch so geliebten BMW-Werke aus den Eisenacher Motorenwerken EMW hervor gegangen sind? Habt Ihr ein Glück! (Wären die Nazi nicht gewesen, der Krieg nicht verloren gegangen und hätten die Russen die Werke nicht demontiert...) Nur so ein Gedanke.

Jetzt verlasse ich das Ameisenbankerl. Wir hatten uns arrangiert. Sie schauen mich von weitem an. Ich stell mir vor, das Jucken käme von der Sonne. Ich konnte mich noch nicht duschen und werde heute zwangsläufig nur eine Katzenwäsche machen: A echter Pilger halt wieder einmal.

Nun legt er seinen Pilgerstab beiseite, mit dem er EUCH dies alles vermeldet hat.

Salute
Siegfried der Hinkende

PS: Für die historische, bautechnische, geographische Richtigkeit der oben gemachten Angaben kann keine Haftung übernommen werden! Ich bin auf der Wanderung und genieße das Wunderbare der Natur, der Bauten, der Menschen, der Kunstwerke und des Essens – und das möchte ich alles so schildern wie's mir erscheint.

11
Juni
2008

{70}

Geschrieben von Siegfried | Kommentare: 1

Lieber Papi,

alles Gute zum Geburtstag!

Deinen größten Wunsch – die Pilgerreise – hast du dir ja erfüllt. Bleib weiter so "stur" und zielstrebig und weiterhin viel Spaß und schöne und interessante Erlebnisse auf deiner Wanderung!

Ganz viele Grüße!
Chantal

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