21
Juni
2008

Stadtallendorf (20. Juni), Marburg (21. Juni)

Geschrieben von Siegfried | Kommentare: 2

Grüße aus Marburg, das ich gestern um sechs Uhr erreicht habe.

Jetzt ist es schon wieder gegen ein Uhr, und gerade habe ich mich vor ein Café gesetzt (Wasser, Cappuccino und Kuchen vor mir) und denke an das zurück, was ich heute hier und gestern unterwegs erlebt habe. Und wie immer fällt es mir schwer, all das, was ich gesehen und erlebt, manchmal auch "erlitten" habe, mir wieder vor Augen zu führen.

Allein aus dem Grund, mir meine Erlebnisse zu erhalten, mögen sie noch so klein und unbedeutend sein, wird dieses Tagebuch geschrieben – und dass Ihr es mitlesen könnt, ist ein kleiner Nebeneffekt, damit spare ich mir manches Kartenschreiben und ich zwinge mich, tatsächlich auch zu schreiben, damit ich mich nicht vor Euch blamiere. Denn ich habe mich schon dabei entdeckt, dem Wunsch der Bequemlichkeit nachzugeben und nicht zu schreiben.

Gestern Abend war so ein Fall: Kurz nach sechs Uhr war ich an der Info, um sechs Uhr macht sie zu. Im Führer hätte ich schon eventuell eine Pilgerunterkunft recherchieren können, aber ich wollte ja meinen Ruhetag machen und auch was anschauen und deshalb möglichst im Stadtzentrum unterkommen.

Aber immerhin, die bei der Info sind schlau: Sie haben eine Liste im Schaufenster, aus der man Übernachtungsmöglichkeiten, Preise und Entfernung vom Bahnhof(?) ersehen konnte. Das beste Haus am Platze schloss ich mal aus. Nicht nur wegen der Preise – über 100 € fürs Einzelzimmer – sondern auch wegen der für mich unerreichbar scheinenden Höhe über meinem jetzigen Platz: Das Schlosshotel.

Schnell hatte ich einen Faforiten gefunden, dessen Lage ich sogar in meinem Kleinen Pilgerführer lokalisieren konnte: Gästehaus Tuskulum. Übernachtung 38 €.

Ich ruf an, es wird nicht abgehoben. Ich suche weiter. Alles was erschwinglich ist, kann ich auf meiner Karte nicht lokalisieren, ist also für mich nicht erreichbar, zumindest psychisch, physisch hätte ich's vielleicht geschafft.

Aber kurz eine Episode aus meiner Caféumgebung: An Nachbartischen sitzt eine vierköpfige Familie. Die Straße ist leicht abfallend. Ich sitze etwas höher. Links an einem Tisch sitzt Mama, schräg ihrem Mann zugewandt, der am mittleren Tisch sitzt, schräg rechts zu ihm aber gegenüber sitzt die unter zwanzigjährige Tochter am dritten Tisch, ihr wieder dazu versetzt der vermutliche Onkel. Die Tochter und somit die ganze Familie ist mir durch einen energisch ausgesprochenen Satz: "DEIN Computer ist der Computer der FAMILIE!" aufgefallen. Nachher gings dann um die Fußballspiele.

Ich bin aber immer noch an der Info.

Es wäre natürlich ein schöner Zug der Info, auch eine Karte auszuhängen, aus der man die Lage der anbotenen Unterkünfte ersehen könnte – spielt ja selbst für Autofahrer keine so kleine Rolle. Irgendwie mit Gottvertrauen gesegnet und der sprichwörtlichen Pilgerruhe, die meine Pilgergenossin in Eckardswerda, den "Kobold" sogar durch das große Unwetter begleitet hat, wie ich später von ihr erfahren habe, rief ich bei einsetzendem Regen nochmal bei Tuskulum an und siehe da, sie haben noch ein Zimmer!

Und in zehn Minuten bin ich dort und zieh meine Feierabendkleider an und gehe raus, um ein schönes Abendessen zu genießen. Und komme an einem ansprechenden Biosupermarkt vorbei und lass mich reinlocken und beschließe, für ein Abendessen und zwei Frühstücke einzukaufen. Und kaufe halt (man darf hungrig nicht einkaufen!) zu viel ein, vermute ich. Gehe auf mein Zimmer: Es gibt Brötchen mit Leberwurst und Camembert aus Neufchatel (ideal weich), Joghurt mit Müsli und Honig! Fruchtsaft und anschließend Merlot, aus der Flasche getrunken, als Dessert eine Handvoll Datteln.

Der Wein stieg mir zu Kopfe, die Glieder waren ohnehin schon schlaff. Ich war ja an die 25 Kilometer gegangen und hatte in der Nacht nur fünf Stunden geschlafen, weil ich nach dem Fußballspiel in Stadtallendorf noch fast bis zwei Uhr nachts Tagebuch geschrieben hatte. Es wurde nichts mehr geschrieben, nur noch mit Müh und Not geduscht und ins Bett gegangen. Ja so leicht lass ich mich von Vorsätzen, hier Tagebuch zu schreiben, abbringen!

Aber heute, nach einem opulenten Frühstück aus meinen gestern eingekaufte Vorräten ging ich gleich mal zum Friseur "Essielle", der gleich gegenüber in der Straße ist, und kam gleich dran und siehe da, ich schaue wirklich wieder ziemlich zivilisiert aus.

Gestern hat mich so ein Hobbyspaziergänger aus dem nahe gelegenen Krankenhaus angesprochen mit: "Sie sehen ja aus, als kämen Sie direkt aus dem australischen Outback!"

Nach dem Friseur flanierte ich in die erwachende Innenstadt, erklomm, da ich mich beim Hinweisschilder deuten vertan hatte, erstmal die Burg, wobei mich eine Frau in meinem Alter mit Rucksack energischen Schrittes überholte und mir schon wieder entgegen kam, wie ich noch gar nicht ganz oben war.

Der Grund wurde mir oben klar. Ich war auf dem Festplatz!

Es gab einen schönen Brunnen mit einer ausführlichen Hinweistafel auf die historische Wasserleitung zur Burg. Ich umrundete den Platz. Es gibt noch was Turmartiges, aber weder eine Mögchkeit auf die Stadt runterzuschauen – überall Bäume – noch eine Sicht oder einen Hinweis auf die Burg. Das einzige Hinweisschild: WC, ist ja auch was. Trotzdem ging ich weiter, etwas unterhalb der WCs und siehe da: Gleich hinter den WCs kam die Burg in Sicht. Die eilige Wanderin hätte nur ein paar Schritte in eine Richtung machen müssen, die sie mit "Burg" nicht in Verbindung gebracht hatte.

Vorschlag an die Schilderverantwortlichen dieser und anderer Städte und an die bewundernswerten Idealisten, die die Pilgerwege markieren: Lasst mal einen Fremden vor Euch hergehen und Eure Schilder deuten, Ihr würdet Euch amüsieren, mit wieviel Phantasie Eure Schilder den fremden, manchmal müden Wanderer zu ganz anderen Orten führen als Ihr sie Euch ausgedacht habt...

21
Juni
2008

Stadtallendorf (19. Juni)

Geschrieben von Siegfried | Kommentare: 0

Salute, der Gestresste grüßt Euch,

denn heute war wieder ein Tag, bei dem alles geboten war.

Nach dem gestrigen gemütlichen Abend im Biergarten meines Hotels bekam ich heute früh auch noch ein opulentes Frühstück, wie sich's gehört, so dass ich (wie immer Rucksack auf dem Buckel) ziemlich genau um neun Uhr auf der Straße war. Der Wirt trug mir noch Grüße an seinen alten Spezl im Hotel zur Burgruine in Marburg auf. Dann ging ich auf den gleich neben dem Hotel liegenden Paradeplatz vor dem Schloss und besuchte auch die Schlosskirche, wo ich mit Orgelspiel – übenderweise – begrüßt wurde. Auch das sehr schöne Gebäude des Museums sah ich mir, natürlich nur von außen, an.

Das Schloss ist sinnigerweise heute Gefängnis und hat vergitterte Fenster! Was für eine Nutzungsänderung!

Dann ging ich (weil's im Führer hieß: Zurückgehen bis zur Landgraf-Philipp-Straße) dahin zurück, wo ich gestern hergekommen war, weil ich meinte, dies wäre irgendeine Straße, die da abzweigen müßte. Gott sei Dank gab's da nach 500 Metern aber einen Stadtplan, auf dem ich sah, dass die Hauptstraße die besagte Straße war. Ich war also wieder mal – und das gleich am Morgen – eine Ehrenrunde gelaufen.

Nun hatte ich die Richtung, und auf einem Damm des Hochwasserrückhaltebeckens ging's Richtung Treysa weiter. Dies ist praktisch auch ein Stadtteil von Schwalmstadt wie Ziegenhain und andere nah bei einander liegende Orte.

Gut gelaunt und weit vor der von mir berechneten Zeit traf ich in Treysa ein und suchte ungeduldig den ersten Anlaufpunkt, das Stadion. Ein auskunftsfreudiger Herr klärte mich auf, dass ich einen Ort zu früh von meiner Route abgebogen war. Ich war doch nicht so schnell gewesen, wie ich's in der Morgeneuphorie gedacht hatte! Das war also die zweite Ehrenrunde gewesen.

Schließlich war ich in Treysa und nach einem echt pilgermäßigem Einzug auf einem schmalen Steg unter einer niedrigen Auto-, dann hohen Eisenbahnbrücke kam ich auch an die alte "Totenkirche". Diese ist heute eine malerische Ruine aus noch intaktem Turm und den Seitenwänden der Kirche. Totenkirche heißt sie deswegen, weil sie, nachdem eine neue Stadtkirche da war, nur noch bei Beerdigungen genutzt wurde.

Aber es gibt eine schöne Geschichte. Während der Belagerung der Stadt im Siebenjährigen Krieg strichen die Treysaer ihren Turm mit Buttermilchfarbe, eine damals gängige Art des Anstrichs (gibt's heute übrigens auch noch). Daraufhin zogen die Belagerer ab, weil sie annahmen: Wenn die noch so viel Milch haben, dass sie ihren Turm damit streichen können, dann hat das Belagern keinen Sinn. Seitdem heißt der Turm: Buttermilchturm!

Ich zog weiter. Ich hatte mir ja auch heute eine Streck von mehr als 20 Kilometer vorgenommen. Und nun ging's los: Feldwege, nicht gemäht. Stöcke können nicht eingesetzt werden, weil das Gras zu viel Widerstand bietet. Dann ein Waldweg: Blockiert von vom Sturm umgerissenen Bäumen. Ich umgehe sie weiträumig, immer auf der Hut, den Weg nicht zu verlieren.

Ein Bauer auf einem Traktor gibt mir den Tip, am Waldrand zu gehen, weil's auch wegen möglicherweise noch in den Bäumen hängender Astteile, die noch herunterfallen können (wir haben auch einen böigen Wind) gefährlich ist. Am Waldrand siehts besser aus, die meisten Bäume sind in Richtung Wald gefallen, warum aber einige wenige genau umgekehrt gefallen sind, bleibt mir ein Rätsel. Deswegen sind Umwege in die Weizenfelder zu machen.

Da ich zur Zeit – um ein wenig luftiger unterwegs zu sein – die Hose kürzer trage, bekomme ich von den Unterschenkeln ständig Meldungen über die bodennahen Eigenschaften des gerade durchwanderten Gebietes: kratzige Fichtenzweige, elastische, weiche Buchenzweige, Himmbeergestrüpp, Weizen, hohes Gras, Brennesseln.

Zum Teil geht's durch hohes Gras und ich suche Spuren von vor mir gegangenen Wanderern. Manchmal glaube ich, was zu erkennen, dann sind Halme in meiner Gehrichtung geknickt, manchmal nicht. Ich denke an die beiden jungen Frauen aus Minden, die ich gestern kennengelernt habe, aber nicht mehr traf. Eine ging in Sandalen, weil ihr Fuß so geschwollen war, dass sie nicht mehr in den Wanderschuh hinein kam. Für sie wäre das eine Tortur! Aber die beiden hätten sicher eine Lösung gefunden.

Heute hatte ich vergessen, Wasser mit zu nehmen – das erste Mal. Und so hatte ich nur ein paar Schluck zu trinken, Obst hatte ich auch nicht. Und gerade heute kam ich an eine gefasste Quelle! "Klauseborn" in der Nähe von Momberg. Da konnte ich biblische Sprüche und Verse von Dichtern zum Thema Wasser lesen, während ich ausgiebig das kühle, gute Nass genoss.

21
Juni
2008

Ziegenhain / Schwalmstadt (18. Juni)

Geschrieben von Siegfried | Kommentare: 0

Der Pilger ist mal wieder kein Pilger, sondern sitzt in einem etwas abgehobenen Biergarten in Nordhessen. Aber das muss auch sein, sonst meint er am Ende hier gibt's gar nichts zum Essen.

Also nach meinem gestrigen Hamburger Fischmarkt-Essen war ich ja noch fast bis halb elf Uhr am Marktplatz gesessen – auf den Stühlen des Hamburgers. Nichts gegen die Hamburger! Sind ja lieb – aber in Homberg?

Um neun Uhr bin ich wieder abmarschiert heute früh, nachdem ich ein Pfund türkischen Joghurt mit dem Rest meines Müslis gegessen habe. Dazu gab's Magnesiumtrunk aus der Apotheke. Bei der Bundeswehr wurde gesagt: Gelobt sei, was hart macht.

Im Hinterstübchen hatte ich schon erwogen, die geplante Tagestour bis Frielendorf (16 km) eventuell zu verlängern, und unterwegs entschloss ich mich dazu (so waren's dann 24 km). Nachdem ich in Frielendorf an einer Kurve praktisch mit der Nase auf eine Gastwirtschaft mit Metzgerei gestoßen wurde, musste ich da, da ich das wirklich als Fingerzeig Gottes verstand, einkehren.

Die Wirtin war sehr lieb, war aber partout nicht einverstanden, mir zu den gerösteten Klopsen ein Schnitzel zu servieren. "Wir müssen da mal was klären..." Also die Klopse sind keine Semmelknödel, sondern Hackfleischknödel. Wir einigten uns dann auf Klopse mit Kartoffelsalat, und es war wirklich gut. Und es war meiner Erinnerung nach das erste Mittagessen während der Wanderschaft.

So gestärkt gab es keinen Zweifel, es geht bis Ziegenhain! Und da bin ich nun und sitze im "Hotel Landgraf", bei Weißbier, Espresso, aber gesättigt mit einem "Schwalmer Sack", einer Spezialität des Hauses, Schweineschnitzel gefüllt mit Waldpilzen, Schinken und Zwiebeln.

Ob's den beiden Damen auch so gut geht, die mich heute am Spiesturm, gerade als ich meine Unterwäsche von der Leine (am Rucksack) nahm, einholten? Es sind zwei jüngere Damen aus Minden in Westfahlen, die eine Woche wandern, aber riesen Rucksäcke haben. Sie waren in Homburg auch im Evangelischen Jugendgästehaus, aber wir haben uns nicht gesehen. Und im Hamburger Fischmarkt haben sie auch gesessen, aber da haben wir uns noch nicht gekannt.

Eine der beiden ist vor einem Jahr den Spanischen Jakobsweg gegangen.

Auch sie haben schon schöne Erlebnisse gehabt. Die eine verliert gerne ihre Wasserflasche, was besonders dramatisch ist, weil sie von der Tochter geliehen ist, und die gerne diesbezüglich Theater macht. Und da war es wieder mal passiert. Ein Mann kommt dazu und sieht die in Auflösung begriffene Frau und sagt, er wird auch schauen. Sie läuft zurück, die andere wartet. Da kommt ein Auto: der Mann – und er hat die Flasche, aber jetzt ist die Frau weg. Nun fährt er die Strecke zurück, findet die Frau, und nun sind Frau, Flasche und Partnerin wieder vereint.

Nach dem kleinen Ratsch am Spiesturm (er war übrigens ein Teil der Grenzbefestigung zu Zeiten Ludwigs I (nicht des Bayern)), gingen wir wieder los, und da ich "Mann" und mit Klopsen im Magen, verabschiedete ich mich: Ich hätte ein anderes Tempo, was beide verstanden.

Ich zog los, rasant, Stöcke energisch in den Boden rammend. Nach zwei Kilometern hörte ich lockere Gespräche zweier Frauen hinter mir: Meine zwei neuen Bekanntschaften kamen, leger plaudernd an mir atemlosen Gewaltbolzen vorbei. Wir wünschten uns viel Erfolg bei der Nachtquartiersuche, und dass wir uns vieleicht bis Marburg wiedertreffen würden, und vorbei waren sie und auch bald außer Sichtweite. Das zum Wollen und nicht Können (meinerseits)!

Heute habe ich mich gegen Ende des Tages in einer Schaufensterscheibe gespiegelt gesehen. War mir ziemlich fremd, hatte aber auch keine Kraft mehr diese Figur zu fotografieren. Vielleicht ein ander Mal. Trotzdem nächste Woche geht's zum Friseur!

Euer
Siegfried im Zustand der Rekonvaleszenz bem Weißbier

PS: Weintrinken heb ich mir jetzt konsequent bis in die Weingebiete Lahn, Rhein, Mosel, Frakreich auf: man braucht ZIELE!

PPS: Jetzt spielt der Wirt Quetsche und zieht im Garten umher!

18
Juni
2008

Dagobertshausen (16. Juni) Homberg / Elze (17. Juni)

Geschrieben von Siegfried | Kommentare: 0

Guten Morgen,

heute sitze ich frisch geduscht und angezogen in einem Zimmer mit schönen alten Möbeln, wie ich sie aus aus Opas Zeiten kenne (ich hab das ja noch in Winterbach erlebt), in einem top-modernen Haus am Ortsrand von Dagobertshausen! Vor mir ein Puppenwagen aus Peddigrohr mit einer liebevoll eingebetteten Puppe mit langen Zöpfen darin. Ein Doppelbett mit hohen, profilierten Kopf- und Fußteilen, dazu passendem Schrank, Schubladenkommode mit Spiegelaufsatz und Carrara-Abdeckplatte – früher der Platz, an dem man sich an der Schüssel wusch – und auch zwei Nachtkästchen.

Und wie kam ich denn dahin?

Es war wieder ein Tag mit allen Höhen und Tiefen einer "Pilgerfahrt" (jetzt spreche ich und denke ich manchmal tatsächlich auch schon von "Pilger-") gewesen.

Morgens war ich in Spangenberg aufgebrochen, nachdem ich mich mit meinen Resten des Großeinkaufs vom Samstag verköstigt hatte – jetzt habe ich nur noch ein Stück Ciabatta und den Romadur zum Mitnehmen.

Erst gehe ich aber zum Frühstücken mit den Eltern meiner Herbergs-"eltern". So, gefrühstückt habe ich unterhaltsam und gut und weitergewandert bin ich auch schon wieder.

Und so sitze ich hier um 20 Uhr am ausgestorbenen Marktplatz von Homberg/Elze. Ein wunderschönes Städtchen mit einer imposanten, die Stadt beherrschenden Kirche in der Philipp der Großmütige, Landgraf von Hessen, am 21. und 22.Oktober 1526 die Synode gehalten hat, durch welche Hessen evangelisch geworden ist.

Ich bin um kurz nach drei Uhr in die Stadt gekommen, und in der Information haben sie mich an das Evangelische Jugendgästehaus verwiesen, wo ich alter Jahrgang unproblematisch, aber zu etwas ungünstigeren Konditionen als die Jungen aufgenommen wurde. Da habe ich nun ein Zimmer mit Bett, in dem ich allerdings im eigenen Schlafsack schlafen werde, habe geduscht und Wäsche gewaschen.

Hab einen Spaziergang gemacht durch gepflegte Gassen zwischen Fachwerkhäusern, und alle Leute sind noch begeistert vom "Hessentag", der vorgestern zu Ende gegangen ist, und von dem sie sogar in Dagobertshausen geschwärmt haben. Vom Leben an diesem Tag merkt man nichts mehr: Leider, wie gesagt, alles ausgestorben, nur Reste der verschiedenen Aufbauten stehen noch, und wie ich gekommen bin, waren sie noch sehr mit Abbauen beschäftigt.

Wie gesagt, ich sitze im Freien vor dem Hamburger Fischmarkt, es ist das einzige "Lokal", wo noch Leute sitzen. Etwas entfernt ein türkischer Pizzabäcker, aber da sitzt niemand davor. Weiter hinten eine Italienische Eisdiele, da hab ich heut Tartuffo, vorzüglich, gegessen, die hat naturgemäß zu. An der Stirnseite groß angekündigt: Ristorante, Pizzeria, da wollt ich eigentlich hingehen, aber da gibt's bloß noch selbst gebrautes Bier!

Gegenüber ist der Pizza-Walter. Der Pizzabäcker schaut immer zu uns rüber, denn niemand ist bei ihm! Vor mir schräg unter dem Tisch sitzt der lokaleigene, langhaarige Hund und schaut mich immer noch vorwurfsvoll an, weil ich ihm vorhin vom Fisch nichts gegeben habe.

So, jetzt könnt Ihr Euch in etwa ein Bild vom Nachtleben in Homberg/Elze machen. Sollte es doch noch verlockende Lokale geben (schräg gegenüber ist der älteste Gasthof Hessens) so treten sie nicht in Erscheinung. Im Gasthof kann ich nicht einmal ein Licht erkennen.

Wie traurig ist das alles! Bin gespannt, wie das in den Weingegenden sein wird, an der Lahn, am Rhein, an der Mosel. Und ich freue mich ganz unpilgergemäß auf das Essen in Frankreich und hoffe, dass ich nicht auch enttäuscht werde.

Unterwegs ist mir heute auch wieder was Nettes passiert. Wie ich im Ort wieder meine Markierungen suche, mit Hilfe von Anwohnern und systematisches Umkreisen der Kirche, hält ein roter BMW neben mir, mit tätowiertem Fahrer. Ob ich über Bad Wildungen Bescheid wisse, sein GPS führe ihn immer hier im Ort umher, aber er komme nicht ans Ziel. Ja wir waren halt in Mosheim. Dieses Rätsels Lösung blieb mir verschlossen, meinen Weg fand ich wieder.

Über den Kehrenberg 363 Meter hoch, einen zweiten Berg bin ich auch fast bis auf den Gipfel, den Mosenberg 405 Meter hoch gestiegen. Ja der Pilgerführer und seine Wegeplanung haben's in sich. Da liest man "Homberg 8 km" auf dem Wegweiser für Autos, selber lauft man aber 12! Dafür aber über Berge, bei denen sich die Autos schwer täten. Aber es sind meist sehr schöne Wege. Und die ersten Schwammerl hab ich dabei heut in einem romantischen Mischwald auch gesehen!

Zum Tag vorher: Der Weg nach Dagobertshausen. Das Wetter war gemischt, zweimal hab ich von Spangenberg bis hierher Regenausrüstung angelegt und wieder ausgezogen. Einen falschen Weg hab ich auch wieder mal genommen, aber dadurch war ich in den Genuss gekommen, ein Stück durchs Fuldatal zu wandern. Die Fulda überschritt ich dann bei Malsfeld.

Dagobertshausen! Ein eindrucksvoller und irgendwie bekannter Name! Nur hat er mit dem Dagobert, an den Ihr alle denkt, nichts zu tun, sondern mit dem Merowingerkönig Dagobert, der im siebenten Jahrhundert gelebt hat, und der den Ort und noch einen anderen gleichen Namens gegründet hat.

Hier hatte ich mich das erste Mal per Email bei einer Privatunterkunft angemeldet, aber keine Antwort erhalten. Ich rief vor dem Ort nochmal an, aber Anrufbeantworter. Macht nichts, denk ich mir, die haben ja einen Gasthof, der steht im Führer mit Übernachtungsangebot. Also optimistisch und abgeschlafft hinein in die gute Stube. Eine Dame, die mit mehreren Leuten an einem Tisch sitzt, sagt: Alles besetzt! Ich meine erst, das sei ein Witz, aber es war ernst, es sei alles belegt mit Monteuren. "Ja, wenn Sie gestern gekommen wären!"

In unheiligem Zorn (da sieht man, wie wichtig das Pilgern ist und wie weit ich noch gehen muss – wird der Weg nach Santiago da ausreichen?), verlies ich die Gaststätte und setzte mich auf eine Bank, die Gott sei Dank da stand, und telefonierte mit dem zweiten Privatquartier, das im Führer angegeben ist: Wir sind besetzt, Bekannte sind da. Dann mit dem Evangelischen Jugendwerk, Anrufbeantworter.

Nun geh ich zur Beruhigung, und um den Himmel einzuschalten, in die Kirche mit dem gewaltigen Wehrturm. Erst find ich schon gar nicht hin. Da passt schon wieder alles. Lauter Häuser drum herum. Dann find ich eine Lücke und komm in die Kirche.

Und welche Überraschung! Da gibt's an der linken Seite einen Tisch mit Stuhl und auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch und stehen ein paar Flaschen Orangensaft und Wasser und Becher. Und ein Schild: "Liebe Pilger, wir grüßen Euch, stärkt Euch, stempelt euren Pilgerpass und tragt Euch, wenn ihr wollt, ins Gästebuch ein!" (Text jetzt frei aus meinem lückenhaften Gedächtnis interpretiert). Ich hab nicht getrunken, ich hab nichts ins Gästebuch geschrieben – dafür war ich zu unchristlich zornig –, aber ich hab gestempelt: Man ist ja schließlich Deutscher. Und ich fasste wieder Hoffnung. Wenn man in der Kirche so begrüßt wird!

Vor dem Kircheneingang steht eine Glocke von 1918 und ein Stein davor. Hier ließ ich mich nieder, Rucksack abgeschnallt. Und telefonierte. Das evangelische Jugendwerk sagte nun ab: Die Räume seien voll belegt durch eine Jugendgruppe. Das Privatquartier hatte nicht zurück gerufen. Das Pfarramt war noch anzurufen, hier wird man an ein anderes Pfarramt verwiesen, also auch Pleite. Jetzt bleibt nur noch der Ortsvorsteher.

Eine nette Frauenstimme meldet sich und sagt, sie hätte mich auf dem Bankerl gesehen, und ich könne zunächst zu Erdbeerkuchen und Kaffee vorbeikommen, sie könne schon was arrangieren.

Und so aß ich einen der besten Erdbeerkuchen meines Lebens, auch einen selbst gebackenen Amerikaner, besichtigte einen top-modernen Rinder/Kuhstall und beobachtete Kühe im Melkroboter, lernte, dass Kühe, die noch nicht gekalbt haben, Rinder sind, hörte von den Problemen der Landwirte und besonders von den aktuellen Problemen des Milchpreises und sah Sauen mit ihren ganz kleinen Ferkeln.

Und dann wurde ich in das Zimmer mit dem Puppenwagen geführt, das mein Schlafzimmer für eine Nacht sein sollte, und ich war zuhause. Und nach einem deftigen Abendessen mit den Eltern der Gastgeber (dabei gab's auch selbst gemachte Wurst!), sah ich noch im Familienkreis das Länderspiel Deutschland gegen Österreich!

Liebe Leute, manchmal glaube ich doch, dass ich einen mir wohlgesinnten Begleiter habe! Wie habe ich das verdient?

Euer
Siegfried

16
Juni
2008

Spangenberg (15. Juni)

Geschrieben von Siegfried | Kommentare: 0

Hallo alle Ihr Lieben,

ich sitze hier vorm Fenster, vor mir die Fassade eines Fachwerkhauses und ein offenes Fenster, an dem eine junge Katze sitzt und sich putzt. Die Familie hinter dem Fenster kenne ich schon recht gut, obwohl ich noch niemanden gesehen habe. Vor allem die vielleicht sechs- bis achtjährige jährige Tochter, die es ob ihrer Stimmgewaltigkeit, die sie in regelmäßigen Abständen eifrig trainiert, sicher einmal zur Opernsängerin bringt. Vormittags hatte sie sich offenbar angestoßen was zu Carmen-gerechten längeren Passagen führte zu denen die Mutter im leisen Alt-Parlando den Widerpart spielte. Der Vater tritt nur in Nebenrollen auf und hat dann nur kurze, prägnante Schlüsselwörter im Repertoire, die aber die dramatische Handlung nicht weiter beeinflussen.

Heute war ich im evangelischen Gottesdienst, die Stadtkirche ist ja gleich um die Ecke. Eine katholische Kirche gibt es hier offenbar nicht.

Die sehr schöne und gepflegte gotische Kirche mit einem Steinaltar und der Kanzel am linken Pfeiler zur Apsis, von der der Pfarrer dann wirklich predigte – das erlebt man ja heute nicht mehr so oft – füllte sich etwa halb. Da zogen bei Orgelklang ein paar junge Leute mit einem Baby ein, der Pfarrer voraus. Alle setzten sich und waren zunächst still, sogar die Orgel. Dann stand der Pfarrer auf und sagte, dass heute Konrad getauft werden würde, und alle hätten ihn ja schon gesehen, weil ihn die Mutter beim Herreintragen stolz hochgehoben hätte, damit ihn alle sähen, sie solle es doch nochmal tun. Vielleicht war das jetzt für mich, ich hatte nämlich beim Einziehen vor lauter Schauen vom Baby nichts mitbekommen. Und die Mutter stand mit ihrem Kind im Arm auf, ging in den Mittelgang und hob stolz das Kind in die Höhe. Das war so eine einfache Handlung und doch so wunderschön.

Nach der Taufe segnete der Pfarrer mit einem eigenen Gebet auch die Mutter und legte ihr die Hand auf.

Es waren drei junge Leute, zwei waren offenbar die Taufpaten.

Trotzdem war es schön und tröstlich zu erleben, wie ein neugeborenes Kind in eine Gemeinschaft von Menschen feierlich aufgenommen wird, und wie diese Gemeinschaft dieses junge Geschöpf mit der Taufe unserem Schöpfer anvertraut, in dem uralten Wissen, dass es mit unserer Kraft allein nicht funktioniert.

Die Predigt handelte dann nach Markus soundso von "mein ist die Rache". Davon, dass man Hass mit Liebe vergelten solle, dass man auch dem Feind helfen solle und Gutes tun, denn jede gute Tat streue dem Feind "glühende Kohlen auf sein Haupt". Wenn man nur unter dem Gesichtspunkt Gutes tut, dass Gott dem Feind einst glühende Kohlen aufs Haupt streuen wird für die guten Taten, die ich ihm jetzt tue, wären die guten Taten auch nicht viel wert, aber die Welt wäre sicher friedlicher. Aber wir wissen ja, und der Pfarrer gab's selbst zu: Es fällt ihm und uns und seinem Pfarrgemeinderat sehr schwer....

Nach einem Spaziergang mit Besichtigung vieler Fachwerkfassaden mit reichem Schnitzwerk, Fassaden teils aus der Zeit der Renaissance, teils der Gotik, auf den Informtionstäfelchen zu lesen, den lesbaren Jahreszahlen auf dem Schnitzwerk nach, so um dem 30jährigen Krieg erbaut.

Ich habe beschlossen mir heute mit all den schönen Dingen, die ich gestern in einer Art Torschlußpanik eingekauft habe, selbst ein Mittagsmahl zu bereiten und so gibt's: Ciabatta mit Thüringer Sülzwurst, als zweiten Gang Romadur an Ciabatta, als Getränk zur Vorspeise Wasser vom Liebenbachquell (das heißt: aus der Leitung). Zum Hauptgang Orangensaft aus Konzentrat. Zum Nachtisch: Yoghurt mit Maracuja und Pfirsichstückchen, garniert mit Bio-Müsli mit Beeren.

Übrigens, Spangenberg hat einen Beinahmen: Liebenbachstadt.

Und das deswegen: Vor langer Zeit liebte ein armer Küferssohn des Spangeberger Bürgermeisters Töchterchen, und sie ihn natürlich auch. Aber der Bürgermeister war sauer: Er hatte sich was anderes für sein Töchterlein vorgestellt. Und da er zur selben Zeit auch politisch sehr unter Druck stand (die Gemeinde forderte eine Wasserleitung vom weit entfernten Bach in die Stadt), fiel ihm – typisch Politiker – eine preisgünstige und für ihn möglicherweise auch noch vorteilhafte Lösung ein: Er versprach dem Küfer sein Töchterchen, wenn er eine Wasserleitung von besagtem Bach in die Stadt legen würde und zwar in hundert Tagen.

Der Küfer fing gleich an und des Bürgermeisters Töchterlein half in wahrer Liebe mit. Und tatsächlich, sie schafften es! Nach hundert Tagen floss das gute Wasser des Baches in die Stadt. Die zwei Verliebten fielen sich in die Arme, weil sie ja wussten, sie würden jetzt Mann und Frau – und starben vor Erschöpfung.

Ein Brunnen vor dem Rathaus zeigt die beiden Liebenden in Bronze.

Nachmittags war ich noch auf Schloss Spangenberg und hörte wie ein Vater seinem Töchterchen beim Hinabsehen in den tiefen Burggraben erklärte: Schau, da sind Schafe drin, früher waren da Wildsäue drin.

War eigentlich ganz sinnvoll. Die Wildsäue waren sicher gute Verteidiger ihres Refugiums, des Burggrabens, andererseits schmecken sie recht gut.

Morgen geht's wieder weiter
Siegfried

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