Mechterstädt (6. Juni)
Hallo, Ihr Lieben!
Jetzt bin ich also in Mechterstädt, einem Ort ca. 15 Kilometer vor Eisenach.
Gerade sind wir – die "ernste Hessin" und ich – vom "Stern" zurückgekommen. Dort haben wir uns niedergelassen, nachdem uns der Wirt (oder dessen junger Adlatus) der näher gelegenen Wirtschaft "....." ein wenig überfordert ob unseres Ansinnens, ein Abendessen verspeisen zu wollen, dorthin geschickt hat.
Ich habe dort eine vorzügliche "Kachelwurst mit Sauerkraut und Bratkartoffeln" genossen, dazu zwei Hefeweißbier. Nachdem mir meine liebe, "ernste Hessin" das DU angeboten hatte, unterhielten wir uns noch bei einem Schoppen Wein über Gott und die Welt, über die Jugend, die Autobahn und die Venusgrotte, die wir – insbesondere ICH – morgen passieren müssten. Der Wirt gab uns gute Ratschläge.
Jetzt sitze ich aufm Bankerl vor dem Haus der Bodelschwingschen Anstalten in dem ich heute nächtigen werde.
Es war ein anstrengender Weg von Gotha hierher, obwohl er sehr schön auf einer Anhöhe verläuft und schöne Ausblicke nach Süden bietet. Aber es war eine Betonpiste, ehemals wohl eine Zufahrt zu einem Truppenübungsplatz.
Um von Gotha raus zu kommen, von der Herberge aus, die hinter dem Schloss liegt, musste ich wieder durchs Schloss gehen, einen Blick zurück seht Ihr! Aber was seh ich da, wie ich zur Stadtseite aus dem Tor gehe. Das Schloss ist nicht ausgerichtet auf die Hauptachse der Stadt, das (rote) Rathaus, sodern verschoben um ca. 100m. Das wäre ja auch nicht so besoders. Aber genau in der Schlossachse steht eine übermannsgroße Statue eines Fürsten und schaut zur Stadt. Nur da wo er hinschaut ist nur der Hinterhof eines untergeordneten Gebäudes. Ist das nun gelebte Demokratie oder das was ich empfand: Die Stadt sagte dem Fürsten "l.m.a.A.".
Ich ging nochmal über den Brühl, die Innenstadtmeile und genoss das Erwachen der Stadt, dann gings Richtung Westen immer bergauf zum "Kriegberg" und fast bis Mechterstädt auf der Anhöhe mit immer einem weiten Blick nach Süden.
Mir war unterwegs noch so viel eingefallen, was ich Euch schreiben wollte, aber jetzt ist leider alles weg!
Dann bis zum nächsten Mal!
Siegfried
Gotha (2) (5. Juni)
Hallo,
das ist das Bild zu der Geschichte die ich erzählt habe. (Bilder gehen noch nicht, Anm. d. Red.)
Jetzt bin ich gerade zur Herberge zurückgekommen. Mit der derzeitigen Mitpilgerin aus Nordhessen/Berlin. Ja die, die ich in Fiernstedt kennengelernt habe. Wir haben uns beim Italiener wiedergetroffen und noch ein Viertelchen miteinander getrunken und geratscht. Sie hat sich heute unterwegs den Fuß verknackst und läuft auch nicht mehr so elegant wie ehedem. Hat Sorge wegen der Wanderung über die Hörselberge, die auf dem Weg nach Eisenach noch zu überwinden sind. Aber sie wird's schaffen!
Siegfried
Gotha (5. Juni)
Hola, Ihr Daheimgebliebenen!
Ich schreite mit Riesenschritten nach Westen! Heute von Frienstedt, wo ich übernachtet hatte, erst mal 20 Minuten zum Fürstenhof, wo ich früstückte. Dies ist eine Gaststätte an der B.. nach Gotha.
Ich fragte ihn, wieso sie "Fürstenhof" hieße: Das kommt daher, dass einmal ein Fürst hier vorbeigekommen ist, der sich was zugezogen hatte. Er wurde hier gesund gepflegt. Der Fürst erlaubte daraufhin der Gaststätte, die vorher "Zur fetten Gans" geheißen hatte, sich forthin "Fürstenhof" zu nennen. Es ist nicht überliefert, aber ich gehe fest davon aus, der Fürst hat sich dafür "freie Kost und Logis" ausbedungen.
Auf meine Avancen bezüglich der Bezahlung des Frühstückes alternativ den Hausnahmen "Siegfrieds wahrer Kräftequell" zu erhalten, ging er nicht ein. Aber er erzählte mir noch was. Der Kaiser Wilhelm (II) war auch mal da. Die Jahreszahlen schwankten zwischen 1806 (ich tippte auf ein Treffen mit Napoleon) und 19... Beim ersten Termin sind Kanonen abgeschossen worden, beim zweiten wurde was übergeben.
Beim Weiterwandern kam ich an dem Gedenkstein vorbei. Da steht (ich hoffe, ich zitiere richtig): Wilhelm II 1891 1919. Vermutlich gab es 1891 ein größeres Manöver zu Ehren des Kaisers, und 1919 war ja der Erste Weltkrieg schon zu Ende. Hier könnten Spezialisten wie der Schubert Hans(i) mal ein klärendes Wort schreiben.
Beim Weiterwandern kam ich bald an ein steinernes Kreuz am Wegrand, und da stand auch eine Geschichte drauf. Es gibt zwei solcher "Kleinrettenbacher Kreuze" eines südlich und eines nördlich des Ortes. Die Kreuze wurden nach dem 30-jährigen Krieg von den Gemeindemitgliedern als dank dafür aufgestellt, dass: Ja, da standen sich zwei feindliche Heere gegenüber: Eines südlich des Ortes und eines nördlich, und als sie gegeneinander zogen, um sich und nebenbei auch den Ort zu vernichten, brach ein so dichter Nebel herein, dass sich die beiden Heere verfehlten und kampflos aneinander vorüberzogen.
Eigentlich hätten die Soldaten auch noch Dankeskreuze aufstellen müssen. Aber vielleicht habens sie's ja getan.
Weiter geht's Richtung Gotha, das ich gegen 14 Uhr erreiche. Ich habe mich in einer "Pilgerpension" angemeldet, aber auf der Suche danach verfranse ich mich total. Erst bin ich wieder auf dem Weg zurück, bis mich ein netter, juger Herr aufklärt, dann bin ich im falschen Stadtteil, weil ich aus der Skizze im Führer falsche Schlüsse zog. Ein nochmaliger Anruf in der Pension und ich fand sie bald links hinter dem Schloss. Dabei erfuhr ich auch gleich, dass es einen "Brühl" gibt, die vornehme Meile von Gotha und ein rotes(!) Rathaus (Außenanstrich).
Beim ausgiebigen Duschen habe ich festgestellt, dass ich an der Rückseite der Beine, über den Stiefeln unter den gekürzten Hosenbeinen, eine Art Sonnenbrand habe. Muss mich offenbar um solche Körperteile kümmern. Werd's schon noch lernen – hoff' es wenigstens.
Beim Runtergehen von der Pension zum Brühl hab ich mich gleich wieder verlaufen. Die Fürsten haben Gotha offenbar so angelegt, dass feindliche Truppen und damische Wanderer verwirrt werden. Ich hoffe, ich finde nach zwei Weißbier, einem Insalata italiana, Tagliatelle con Fungi, einem Espresso und einem Vino von Montalcino noch heim. Etwas irritiert mich: Das Italienisch hier hört sich eher wie Russisch an! Das wäre was für Mami gewesen.
Nasdrawi Siegfried
Fiersheim nach Erfurt (4. Juni)
Hallo,
nach der gestrigen, eher gehobenen Kategorie einer Übernachtungsstätte, habe ich heute wieder eine Herberge bezogen.
Ich hatte mich, wie empfohlen, schon am Morgen telefonisch angemeldet, und so konnte ich unbeschwert den Tag in Erfurt genießen.
Von Kerspleben bis Erfurt Mitte waren natürlich erst Mal eineinhalb Stunden zu wandern, und das Wetter schaute so zweifelhaft aus, dass ich überlegte, den Regenschutz über den Rucksack zu ziehen.
Um 10 Uhr hatte ich das Zentrum erreicht und da ich nicht wußte "wohin", ging ich erst mal in die Kauf-(leute/manns/fahrt...-hab den Namen schon wieder vergessen, aber dafür gibt's ja Internet)-Kirche. Und ich hatte gleich wieder einen Volltreffer gelandet: Hier sind die Eltern von J. S. Bach getraut worden, hier wurden die ersten EVANGELISCHEN Predigten gehalten, hier predigte Luther um 1521. So, das war Geschichte.
Nun ging ich zum Augustinerkloster, das im Führer u. a. als Stempel- und Übernachtungsstelle eingetragen ist, und deponierte meinen Rucksack.
Leicht aber nicht leichfüßig begann ich, Erfurt zu erkunden. Überall gibt es wunderschöne Häuser aus allen Epochen unserer Geschichte, und alles passt malerisch zusammen: Alte windschiefe Fachwerkhäuser neben edlen Putzfassaden mit farbigem Zierwerk. Man wandert durch verwinkelte Gassen mit altem Granitpflaster und kommt sogar über einen rauschenden Mühlbach.
Plötzlich ein riesiger Platz, über dem zwei gewaltige Bauwerke thronen: der Dom und die evangelische Kirche " ". Der Dom schießt förmlich in die Höhe mit seinen schlanken Pfeilern und Fenstern, er erinnert an die Kathedralen der französischen Hochgotik mit ihrer feingliedrigen, vertkalen Struktur, und dies hier überhöht, weil hoch oben über dem Platz stehend.
Man muss eine sehr hohe, sehr breite Freitreppe hochsteigen, erst von dieser Terrasse aus sind beide Kirchen betretbar. Ich war nur im Dom, ein nicht all zu großer, aber sehr hoher Raum mit schlanken Pfeilern, schlanken hohen Fenstern.
Die vorderen Fenster – im Alterraum – haben sehr feine, detailreiche Bleiverglasung. Diese Fenster wirken aus der Ferne wie funkelnde Kristalle, aus der Nähe wie Bilderbücher, wie Comics.
Ich setze mich und versuche den Raum auf mich wirken zu lassen, da kommen zwei Mädchen mit Papierblock und interviewen mich über Fremdenfeindlichkeit. Ist anscheinend eine Schulaufgabe.
Langsam geht's wieder über große und kleine malerische und geschäftige Plätze zurück zum Platz vor dem Hauptpostamt, wo ein schöner moderner Brunnen plätschert und eine berühmte Lutherfigur hoch oben auf einem Sockel predigt.
Ich muß bald ans weiterwandern denken und genehmige mir noch mein Weißbier mit Kaffee und Kuchen. Ich will noch Frienstedt erreichen. Es wird noch eine dreistündige Wanderung mit ein paar kleinen Verirrungen. Schließlich, kurz nach sechs bin ich da. Ein Fachwerkhaus, ehemals wohl eine Scheune, wird mein Quartier. Der Raum, in dem ich jetzt auf einer Ledercouch sitze, ist über 30 Quadratmeter groß und mit weiteren Couchs unterschiedlichster Art bestückt. Es gibt auch eine Schrankwand. Es ist offenbar so ein Senioren- oder Jugendtreff, für den alle ausgemusterten Möbel des Ortes zusammen getragen wurden.
Nun lerne ich auch meine Mitbewohnerin kennen, eine Frau in mittleren Jahren. Sie ist aus Hessen und ist den Weg von Görlitz her gegangen, wobei sie einmal geschwindelt hat und mit dem Zug gefahren ist. Ein bisschen ungewöhnlich ist die Situation, dass der Zugang zu WC und Dusche gerade vor ihrer Türe ist, und dass sowohl ihre Türe als auch die Türe zum WC nur Faltschiebetüren sind. Habe angekündigt, dass ich nachts evt. vorbei komme, sie solle sich nichts dabei denken. Wir sind halt "Pilger".
Wir sind noch ein Stündchen auf dem Balkon gesessen und haben geratscht. Sie muß Montag wieder arbeiten. Morgen will sie schon um sieben weiter: nach Gotha, wo auch ich hingehen werde. Vielleicht sehen wir uns ja wieder.
Gute Nacht, es ist fast 12 Uhr
Siegfried
PS: Hab zu Abend im Fürstenhof hier am Ort gegessen. Thüringer Kartoffelknödel, mit rohen Kartoffeln gemacht, so gut wie früher zuhause, und einen gefüllten Schweinerücken, dazu feines Blaukraut. Neben mir saßen zwei weise Männer, die sich erst über Schopenhauer, Marcuse und andere weise Männer ausliesen, dann einen Probepoker versuchten, wobei der Herr mit der größeren Schnauze nicht zurecht kam, weil der Wirt nur deutsche Karten hatte, er aber nur französische gewohnt ist.
Ach ja, heute fragte mich ein kleiner Bub: "Bist du ein Wanderer?"
Und am Morgen, als ich nach Erfurt rein kam, begegnete mir eine echte Pilgersfrau in jungen Jahren mit einem gewaltigen Haselnuss-Pilgerstab und wünschte mir fröhlich "gut Weg!". Schade, dass sie nicht in meine Richtung ging, wir hätten sicher gut pilgermäßig fachsimpeln können.
Erfurt (4. Juni)
Liebe Leute, Freunde und Geliebte!
Bin heute zu Fuß um 10 Uhr aus Kerspleben hier eingetroffen. Und da ich nach einem kleinen Stadtrundgang (den Rucksack habe ich im Augustinerkloster abgegeben), dem Dombesuch und dem Ende eines Gottesdienstes in der Kirche des Ursulinenklostes nun bei Donnergrollen vor einem Weissbier sitze, habe ich Zeit und Muße Euch zu schreiben. Denken tue ich sowieso immer an Euch!
Ich bin überrascht von Erfurt! Früher habe ich immer gedacht, München sei der Nabel der Welt! Jetzt laufe ich zu Fuß von einem Nabel zum anderen!
Zeitz, Naumburg, Weimar, jetzt Erfurt, morgen Gotha und bald Eisenach!
Ich grüß Euch herzlich und begleitet mich weiterhin
Siegfried