Weimar (2. Juni)
Liebe Leute,
ich kenn' mich nicht mehr aus! Die Ereignisse überrollen mich!
Ich sitze jetzt vor dem Gadthaus "zum schwarze Bären", das das älteste(!) Gasthaus Weimars sein soll. Vor mir das Rathaus, dessen Uhr verlässlich alle Viertelstunde den Winchester-Schlag tut, deren Zeiger – seit ich da bin – aber immer auf halb 12 stehen. Der Platz ist der "Markt".
Wie komme ich jetzt plötzlich hierher?
Ja, liebe Leute, ich hab den Eindruck, es meint doch jemand sehr gut mit mir. Und Eure guten Wünsche und Gedanken spielen da sicher auch eine gewaltige Rolle.
Ich bin also nach meinem besinnlichen Stündchen am kleinen Weiher im Buchenwald unter der gewaltigen Eiche weitergegangen, so nach Gefühl, Sonnenstand und bergaufwärts.
Ein netter junger Mann, der seinen Hund im Weiher baden lies, hatte mir vorher versichert, man könne sich eigentlich nicht verlaufen. Auf halber Strecke hatte ich – nach Vergleich von Sonnenstand und Karte mit den Gegebenheiten vor Ort – den Eindruck, dass hier der im Pilgerweg eingezeichnete Weg zu mir gestoßen ist. Ich war beruhigt, obwohl ich vorher eigentlich nicht beunruhigt war.
Schließlich kam ich an ein Zauntor, es war offen. Und da sah ich Die Edelstahlstelen lm Wald. Rundrohre mit ca. 12 cm Durchmesser und ca. 3 Meter hoch, die lotrecht im Wald stehen, verstreut zwischen den Bäumen. Eimal dichter, dann wieder weniger dicht. Ich war sehr berührt, da ich weiss, dass diese Stelen Massengräber kennzeichnen. Es fällt auch sofort auf, dass der Wald hier viel jünger ist als der Buchenwald unten, und dass hier vorwiegend schnell wachsende Ahorn stehen.
Das Weitergehen fällt schwer im Bewusstsein, dass hier so viele Leben so schrecklich beendet worden sind. Für was, für wen soll man da beten? Sollte ich als Wanderer (ich möchte mich nicht Pilger nennen, wie es auf dem Weg vielen all zu leicht von der Zunge kommt) durch die Wanderschaft, die mir so viel Freude bereitet, einen Verdienst erwerben, so steht es mir nicht zu, um irgendetwas zu bitten! Ich hoffe nur, dass allen, die mich im Geiste begleiten, ein bisschen von der Freude, die ich nun erleben darf, und dem Glück, das mir im Leben gegönnt war, teilhaftg werden.
Ich ging weiter hoch, durchschritt wieder einen "Gartenzaun" und stand auf der breiten Querstrasse vor der ehemaligen Einzäunung des Lagers. Es sind nur noch die Stahlbetonpfosten, verrottet, aber teils noch mit den Isolatoren der Hochspannungsleitungen zu sehen. Später las ich, der Weg war der Weg der SS-Wachpatrouille.
Am Weg war dann auch ein Kreuz und ein Hinweis auf das Speziallager der Russen, das hier von '45 bis '50 existierte. Die Stelen markierten offenbar Massengräber aus dieser Zeit. Zu DDR-Zeiten war offenbar die Tatsache unterdrückt worden, dass zu dieser Zeit nochmal 7000 Menschen starben.
Am Weg weiter komme ich am Krematorium vorbei, einem unscheinbaren Gebäude mit hohem Schornstein. Hier ist auch die alte Einzäunung wieder renoviert worden.
Wie vielen glücklichen Menschen wurde hier ein unwürdiges, schreckliches Ende bereitet. Über welche Kleinigkeiten regen wir uns dagegen heute auf. Was würden wir denn sagen, wenn Vater, Mutter, Kinder diesen Berg hinauf getrieben würden? Keiner könnte für den anderen was tun und sähe doch die Not des anderen!
Schließlich komme ich, nachdem ich einen Wachmann um Rat gebeten habe, oben auf dem großen Parkplatz an, an dem auch die beiden Jugendgästehäuser stehen, in denen ich hoffe und sicher bin, Quartier zu bekommen.
Aber NEIN! Es sei alles besetzt, sagt mir eine etwas extrovertierte Dame an der Rezeption. Ich, verschwitzt aber durchaus kampfbereit, frage ob es an meinem fortgeschrittenem Alter läge. Darauf geht sie weiter nicht ein. Auch auf meine Argumentation, dass vielleicht öfters Leute kämen, um diesen Berg der Leiden zu Fuß zu erleben, und die dann auch den Willen und die Absicht haben könnten (so wie ich), eine Nacht dort oben zu verbringen, um mit Ruhe die Orte und die Dokumentationen zu besichtigen und zu studieren, hatte sie keine Antwort.
Ich fragte sie nach der nächsten Übernachtungsmöglichkeit. Weimar! Das war nicht auf meiner Route und nicht geplant und zu Fuß wohl erreichbar aber genau in der entgegengesetzten Richtung.
Ich war stocksauer. An diesem Ort und nach den vielen vorhergegangenen Gedanken eigentlich unverständlich, aber so ist der Mensch. Ich sitze auf einer Begrenzungsmauer des großen Parkplatzes, weiter links ist eine Bushaltestelle. Studiere meine Karten, meinen Zustand: Ich habe nur eine Semmel und einen Apfel bis jetzt gegessen, es ist schon nach drei Uhr, der Himmel bewölkt sich. Der nächste Ort – Huttelstedt – klingt nicht gerade nach Unterkunft...
Da kommt der Bus und hält an der Haltestelle, ca. 50 Meter von mir. Zum hinrennen zu weit. Der Bus fährt wieder los, um den Parkplatz herum, und ich denke mir, vielleicht hat er noch eine Haltestelle bei den Häusern drüben. Wenn – dann! Und tatsächlich: Der Bus hält, der Motor wird ausgeschaltet.
Ich packe meinen Hausstand auf den Rücken und bereite mich zur Busfahrt nach Weimar vor. Der Busfahrer steht an einem Fenster des benachbarten Hauses und hält ein Schwätzchen mit einer Dame. Er sieht meinen entschlossenen Willen, den Bus zu besteigen und verweist mich an die Haltestelle, wo er mich aufnehmen würde! Ach, Du konsquentes Deutschland!
Nun sitze ich an der Haltestelle wieder auf besagtem Mäuerchen. Es kommt eine braun gebrannte ältere Dame und setzt sich neben mich. Sie fragt mich, ob hier der Bus abfahre oder drüben, wo er stehe. Ich – als inzwischen Buskundiger – kann ihr fundiert Auskunft geben.
Sie studiert daraufhin ein Informationsblatt des Lagers – auf französisch! Seit ich Wanderer bin, verlieren sich meine Hemmungen. Ich frage sie, ob sie Französin sei, nein Schweizerin! Sie erklärt und zeigt mir dann in dem Blatt die Orte, die sie im Lager besucht hat und die sie besonders berührt haben. Es sind das: das Gebäude, wo die medizinischen Versuche an Menschen gemacht wurden und das daneben liegende Lager für besodere (ich weiß die richtige Bezeichnung nicht mehr) Häftlinge (politische, Intelektuelle, Künstler usw.).
Wir reden auch im Bus weiter, und ich mache der Schweiz das Kompliment, dass alles was hier besonders schön ist, mit dem Beinamen "Schweiz-" bezeichnet wird. Sie sagt mir ein paar schweizerische Begriffe, in denen "schweiz" mit etwas Negativem verbunden ist. Schließlich verriet sie mir, dass sie mit ihrem Mann mit dem Fahrrad unterwegs sei, und der Mann das NORDKAPP(!) zum Ziel gesetzt habe. Morgen gehe es nach Dresden. Beim Aussteigen wünschten wir uns alles Gute für unsere Pläne. Ihr Händedruck war fest, sie wird es schaffen!
Nach dem Aussteigen sprach mich noch ein älteres Paar an. Ich hatte schon im Bus gemerkt, dass sie uns interessiert zuhörten. Auch sie sind mit dem Fahrrad unterwegs. Wir erzählten uns von unseren Plänen und wünschten uns gute Reise.
Nun bin ich, völlig ungewollt, aber nicht unglücklich, am Goetheplatz in Weimar. Wohin? Wolken haben sich zusammengezogen, manchmal tröpfelt es. Ich gehe dorthin wo ich die meisten Leute sehe und komme zum Theaterplatz. Und wie ich den Platz betrete, beginnt eine Blaskapelle Bach's "Wohl mir, dass ich Jesum habe..." zu spielen. Wenn das kein Empfang ist! Dazu muss man wissen, dass dies die Münchner Chorbuben bei unserer Hochzeit im St.-Anna-Kircherl gesungen haben.
Ich ging erst weiter als das Stück, das die "Neva Brass" aus St. Petersburg intonierten, zu Ende war. Und bald hatte ich um die Ecke eine Pension, hatte geduscht, war wieder runter gegangen, hatte gelesen, die Pension sei am Goethehaus, hatte auch mitbekommen: Ich logiere am Frauenplan, hatte mich vor lauter Glück in ein italienisches Straßencafe gleich vor der Pension gesetzt und Caffè und Wein getrunken und durch beobachten der Besucherführungen, die erfurchtsvoll vor einem Gebäude am Platz Halt machten, mitgekrigt, welches Gebäude das Gebäude ist, in dem Goethe gestorben ist.
Beseelt von dem Gedanken, dass vielleich Goethe die Idee gehabt haben könnte, mich nach Weimar zu rufen, um mich zu küssen.... Liebe Freunde, nur Ihr könnt ermessen, ob Goethes eventueller Kuss bei mir gewirkt hat.
Nach einem ausgedehnten Spaziergang durch das Zentrum (wobei ich insbesondere die hübsch und besonders chic gekleideten Frauen Weimars beachtet habe, die mir auch dadurch auffielen, dass sie meist mit einem möglichst großen Musikinstrument auf dem Fahrrad durch die Fußgängerzone eilen – aber auch einen Vater auf dem Fahrrad, der seinem ihm folgendem Sohn "ein Männlein steht im Walde" vorsang) sitz ich eben immer noch hier beim Schreiben dieser Email. Und inzwischen beim zweiten Glas Dornfelder vom Kloster Pforten, an dem ich vor ein paar Tagen vorrüber gewandert bin.
Ich hab noch vieles von den vorangegangenen Tagen zu schreiben. Falls ich's noch schaffe!
Siegfried
Buttelstedt/Schwerstedt (2. Juni)
Hallo, Ihr Nichtsahnenden!
Ich sitze hier in Schwerstedt, total verschwitzt. Es ist 9 Uhr. Ich bin ja schon 4km in strahlender Sonne gewandert. In einem Gasthof vor einem Glas Saft und erwarte ein opulentes Frühstück.
In Buttelstedt gab's überhaupt nichts. Wir (Heiko und ich) waren ja in einer Herberge. In dieser Stadt... Stadt! Mit 1400 Einwohnern soll es einen Metzger geben, bei dem man auch eingepackte Brötchen bekommen soll. Heiko war ein Umweg von 1000 Metern diese Ankündigung wert. Ich vertraute auf Gott und hatte absolut keine Lust, mir beim Gehen Wurst und trockenes Brot "reinzuschieben"! Und ich bin für mein Vertrauen belohnt worden.
Ich sitze hier im Wirt zum Hofbrunnen (oder so ähnlich) in Schwerstedt und erlebe das erste Mal thüringische Gastlichkeit. Der Gasthof ist gleich hinter der Kirche, und ein schöner, schattiger Weg führt dort hin. Es ist viel los, schon vor dem Tor eine Ansammlung von meist schwarz-weiß gekleideten Herren. Da ich einen – er bedient gerade ein Handy und schaut wichtig – für den (oder einen) Herren des Hauses halte, frage ich (es ist ja 9 Uhr), ob es ein Frühstück gebe.
Durch einen kleinen Hof, in dem ein mechanischer Gockel jeden Gast anmeldet, komme ich vor eine halbrunde, große Theke. Rechts sitzen ein paar muskulöse junge Männer in dunklen T-Shirts mit feschen, sportlichen Müützen auf dem Kopf und stieren mich an, als sei ich der Mann vom Mond. Ich nehme dieweil meinen Rucksack, so elegant und kraftvoll vom Rücken, wie es geht, man ist ja schließlich wer. Da kommt die Wirtin, und gleich weiß ich mich in guten Händen!
Nachdem ich meinen Wunsch nach einem Frühstück mit viel Saft ausgedrückt habe, bittet sie mich (mich Verschwitzten!) an einen Tisch mit Tischdecke! Und wie ich mich setze, wird schon wieder die Tischdecke vor mir nass, weil's tröpfelt. Ich bekomme reichlich Saft, Kaffee, Brötchen mit Käse und Marmelade, wie gewünscht, und beim Bezahlen noch einen Apfel und einen kleinen Snack. Ach, übrigens: Die schwarz-weiß Gekleideten waren irgenwelche Vertreter oder so, und zwei bekamen je eine Flasche Sekt, weil sie die besten waren.
Frisch gestärkt, aber eher ein wenig mühseliger, geht's nun weiter nach Stedten und von da Richtung Ettersburg am Fuße des Ettersberges.
Es geht durch weite Weizenfelder, nur in der Ferne sieht man leichte Bodenerhebungen. Ab Stedten ist der Weg auch recht deformiert, die Fahrrinnen sind mit grobem Schotter und Betonbruch aufgefüllt, nur der Mittelstreifen ist mit Gras bewachsen. Ohne große Mühe kommen Gedanken in den Kopf, wenn man so mit seiner kleinen Last gebeugt auf diesem Weg dahingeht. Gedanken an die vielen tausend Menschen, die vor mehr als sechzig Jahren hier in die Hoffnungslosigkeit getrieben worden sind.
Ich komme schließlich nach Ettersburg, frage nach Buchenwald und sehe auf einer Landstrasse recht bald, dass dies nicht der richtige Weg sein kann. Über ein kleines Brückchen finde ich zum Sportplatz des Ettersburger Fußballvereins, und an einem wird mir der Weg zu einer S[unlesbar]-Eiche gewiesen. Nach einigem Hin- und Hergelaufe entscheide ich mich für die Eiche, Eiche im Buchenwald, irgendwie wird's schon dann weitergehen.
Ein sehr schöner, mit dunklem Feinsplitt bedeckter schattiger Pfad, Buchen aller Art und heftiges Vogelgezwitscher. Und da sehe ich schon die Eiche! An einem kleinen Weiher, davor ein paar Bänke. Genau das, was ich mir für Mittagspause und E-Mailschreiben erträumt hatte.
Und da sitze ich nun und schreibe. Und als Nachspeise gibt's den Apfel von der netten Wirtin aus Schwerstedt.
Euer, im Augenblick wieder mit der Welt versöhnter
Siegfried
Buttelstedt (1. Juni)
Ich bin geschlaucht, Ihr Lieben!
Nachdem es nach dem gewittrigen Abend angenehm kühl war, wurde es im Lauf des Tags drückend schwül. Ich liege jetzt auf meinem Schlafsack-Inlett in meinem Seiden-Schlafanzug und fühle mich müde, abgespannt und heiß. Ich werde deshalb auch mit der alten Sitte brechen und erst morgen das Tagebuch für heute schreiben. Es gibt so einiges zu erzählen, darunter aber manches, was mir nicht gefallen hat. Hab heute anscheinend keinen guten Tag.
Bis morgen
Euer Siegfried
Eckartsberga (31. Mai)
Hallo,
Ihr täglichen Streß befangenen, hier spricht der angehende Pilger!
Heut bin ich, nach einem sehr besinnlichen Ruhetag bei strahlender Sonne in Richtung Bad Kösen aufgebrochen, bin also an der Saale entlang nach Westen gewandert, auf einem gepflasterten Radweg. Es ist ein breites Tal, das sich, je näher man Kösen kommt, immer mehr verengt die eingrenzenden Hänge dafür immer höher werden.
Hoch über einem Ort zwischen Naumburg und Bad Kösen sieht man den Bismarckturm, näher bei Bad Kösen siieht man von Ferne das Kloster Hohenpforten. Und näher sieht man die Radfahrer, die einen auf diesem Saale-Radwanderweg überholen, und da hab ich heut ein besoders eindrucksvolles Ensemble vorüberziehen sehen. Tandem: Vorne der Mann, gewaltig, breitschultrig, massig, dahinter die Frau, klein, zierlich, im schwarzen Höschen und BH.
In Bad Kösen habe ich die Saale überschritten. Auf der Brücke gibt es eine Gedenktafel für einen mutigen Bürger, der am Ende des Krieges deren Sprengug verhindert hat. Drüben gings nun steil hoch, aber schneller als ich gedacht hatte, war ich in Fränkenau, wie mir zwei kleine Mädchen versicherten. Ihre Mutti zeigte mir dann den unbefestigten Weg, mitten durch Rapsfelder, zum nächsten Ort.
Wie ich so auf dem Weg um eine Ecke biege, hinter der ich eine Pause einlegen wollte um zu trinken – ich setze mir da immer Wegmarken um ein Gefühl für die Strecke zu bekommen – sehe ich 50 Meter vor mir ein kleines Geschöpf mit schwarzen, langen Haaren und schwarzem Rucksack, großen Schuhen mit schlenkernden dicken Schuhbändern aufspringen, um mit entschlossenen Schritten fortzuwandern. Erst juckt mich der Jagdeifer, dann siegen Altersweisheit und Gelenke. Ich mache meine Pause. Das kleine Wesen ist in der Zwischenzeit verschwunden.
Es geht weiter durch Punschau, Richtung Spielberg. Einmal meine ich, ganz in der Ferne was zu sehen, dann wieder meine ich, es war eine Täuschung. Dann bin ich plötzlich wieder 50 Meter nah dran, wieder das gleiche, auf und davon. Ich bin nun wieder in meinem Trott. Mir kommt das kleine Wesen wie ein Vögelchen vor, das mich necken will, oder wie Fliegen, die oft am Wegesrand vor einem schrittweise voanfliegen, sich setzen, wenn man da ist wieder auffliegen. Sie bleiben auf der Spur und fliegen nicht seitlich weg. Manchmal wie eine Fata-Morgana vom Aussehen her aber eher wie ein Kobold.
Aber da, plötzlich, nach einer Biegung bin ich ganz nah dran, ich sehe: Es ist eine junge Frau, sie grüßt mit der Hand, ich zurück, und wir gehen gemeinsam weiter.
Sie ist eine Journalistin aus Hamburg und geht abschnittsweise den Pilgerpfad. Heute ist der letzte Tag dieses Abscnittes und sie will noch bis R..., das ist noch ca 10km weiter als mein Ziel. Mit vielem Erzählen geht sichs leichter und bald sind wir vor Lissdorf, wo's den bekannten Mann geben soll, der, wenn man rechtzeitig anruft, ein Stück des Weges erzählend mitgehen soll. Ich wollte, habe aber nicht angerufen, weil ich meiner Streckenplanung/-realisation noch nicht ganz vertraue. Aber sie hat angerufen, aber es war nur der Anrufbeantworter dran. Es kam auch kein Rückruf.
Wir gingen also nach Lissdorf rein. Da öffnet sich plötzlich ein Hoftor, und eine freundliche Frau bittet uns herein. Sie sagt, sie erkenne am Bellen des Hundes, wenn Pilger vorbeikämen. Wir dürfen uns aufs Bankerl setzen und werden mit Wasser, Kaffee und hervorragendem Selbstgebackenem bewirtet. Es stellt sich heraus, dass das die Familie Röder ist: die Familie des Mannes, der den Pilgern entgegen geht. Heute war er leider verhindert.
Es geht uns also sehr gut! Dazu muss ich sagen, dass meine Gefährtin im Ort vorher großen Appetit auf Kuchen und Kaffee hatte, es aber nur Saft, für mich allerdings ein Radler gab. Es ist mir die Bewirtung bei Röders wie ein kleines, allerdings sehr profanes, vorgekommen. Herr Röder erzählte von der Geschichte des Ortes, von der früher vorbeiführenden Via Regia, und dass der Ort als eines der Kastelle, die zum Schutz dieser Strasse angelegt wurden, seinen Anfang nahm.
Schließlich führte uns Herr Röder noch in die Kirche, die einen Wehrturm aus dem 12ten Jahrhundert hat, und führte uns das Geläute vor. Die große 500 Jahre alte Bronzeglocke, die im Krieg nicht eingeschmolzen wurde wegen ihres Alters: Sie war schon nach Hamburg abtransportiert worden und kam wieder zurück, und die beiden neuen Stahlgglocken. Ja! Für uns beide läuteten die Glocken von Lissdorf.
Nun bestens gestärkt und noch gesprächiger waren wir schnell in Eckartsberga, meinem Reiseziel. Leider war im Pfarrhaus, dem Quartier, niemand da, und so gingen wir zusammen noch eine Abschieds-Thüringer-Bratwurst essen. Wir sind ja hier nicht viel mehr als 500 Meter von der Grenze entfernt, und die Wirtin sagte, sie seien hier mehr thüringerisch als die Thüringer.
Das Wetter hatte sich geändert, der Himmel trübe, aber die Wirtin versicherte, dass die Wettervorhersage kein Gewitter angesagt habe. Meine Gefährtin brach, nachdem wir uns noch bekannt gemacht hatten, optimistisch zum nächsten Ort auf, ich wieder Richtung Pfarrhaus. Die Wirtin hatte noch eine alternatve Adresse recherchiert, wo ich den zweiten Schlüssel bekommen könnte.
(Fortsetzung folgt (hoffentlich), Anm. d. Red.)
Naumburg: Besichtigungs- und Ruhetag (30. Mai)
Hola,
so heißt's in Spanien. Muss das manchmal einflechten, dass ich das große Ziel nicht aus den Augen verliere.
Kurz nach neun bin ich zum Dom gegangen, der ja gleich um die Ecke meiner Pension liegt. Schon die Zeit war Ruhetags-mäßig aber der Dom wird erst um 9 Uhr aufgemacht. Da die erste Führung um 10h ist ging ich erst zum Domschatzgewölbe, wo zur Einführung ein kleiner Film über den Dom und den Schatz gezeigt wird.
Das Domschatzgewölbe ist einer der ältesten Teile des Domes und auch in Bezug auf Alter und Größe einmalig in Deutschland. Es ist ein sehr flaches Gewölbe, der Bogen beginnt praktisch am Boden. Alle paar Meter gibt es ein Band, dazwischen wilder Natursteinverband. Es wird darauf hingewiesen, dass im Mauerwerk noch Holzreste der Verschalung sichtbar sind. Das Gewölbe ist also ein langer, niedriger und dezent beleuchteter Raum.
Hier sind Tafeln der alten Altäre des Domes ausgestellt (im Dom gab es in alter Zeit 14 Altäre, die zum Teil bei den Bränden schon im 15. Jahrhundert zerstört wurden), darunter zwei Retabeln vun Lukas Cranach dem Älteren.
Wenn man sich Zeit nimmt und Gesicht und Bewegungen der dargestellten Personen studiert, kann man besser als im täglichen Leben Schmerz, Sorge, Leid, Güte, Zorn, Hass, Liebe usw. aus Gesichtern und Haltung lesen. Das war das Neue, das Lukas Cranach geschaffen und bis zur Meisterschaft vollendet hat. Das kann man nicht sehen an kleinen Reproduktinen, das konnte ich jetzt wirklich nur am Original mit Zeit und Ruhe erkennen und empfinden. Ich muss gestehen, auch ich nahm mir nicht genügend Zeit. Vielleicht sind wir heute nicht mehr in der Lage dazu? Es ist ja auch viel zu viel zu sehen und schon beim benachbarten Exponat verliert das vorangegangene etwas von seiner Wirkung. Was mich auch noch tief beeindruckt hat, ist das abgeschlagene Haupt des Johannes. Ihr wisst natürlich: Salome war schuld! Eine der ersten Bildhauerarbeiten in Holz in dieser Art, lebensgroß und sehr realistisch! Beachtenswert die Zunge!
Berühmt ist auch die Pieta von Naumburg, Maria mit dem Leichnam Christi auf dem Schoß. Christus, hager, der Bauch eingefallen, so dass Brust und Becken im Bauchbereich ein ausgeprägtes "V" bilden. Dies hat mich mehr beeindruckt, weil es so maßloses Elend ausdrückt – nur das Knochengerüst ist noch da –, als das was an Besonderheit an Marias Antlitz beschrieben wird: Der Schmerz den die Augen ausdrücken und das zarte Lächeln mit den Lippen, das die Gewissheit des Weiterlebens zeigt.
Es gibt auch noch eine romanische, lebensgroße "Madonna mit dem Strahlenkranz". Es ist eine holzgeschnitzte typisch romanische Figur, bei denen man fast immer den Eindruck hat, der Kopf sei zu groß. Auch diese Madonna hat eine Geschichte, und sie heißt deshalb die "Wundertätige Madonna": Beim letzten, großen Brand vor etwa 500 Jahren stoppte das Feuer genau an der Madonna. Nur der Strahlenkranz verbrannte, den hat sie seitdem nicht mehr!
Jetzt seht Ihr, wie aufregend das hier ist, und ich war noch nicht einmal bei meiner UTA!
Die Domführungen beginnen um 10h und ich bemühte mich bei der ersten dabei zu sein. Ich hab nicht geschwindelt, ich durfte den Besuch des Domschatzmuseums dafür unterbrechen.
Nach der Ruhe im Museum, wo ich fast allein war, und die wenigen anderen Leute sich ruhig verhielten, der Schock: Ich betrete den gewaltigen Raum. Lautes Gerede und Gelächter aus dem Eingangsbereich und dann kommt eine "fröhliche" Gruppe zum Abhaken ihrer Sight-Seeing-Tour, die der Führer nur mühsam zur Ruhe bringen kann.
Ja, dies hab ich jetzt auf einem Bankerl am Marktplatz – die Naumburger nennen ihn den schönsten Marktplatz Deutschlands (warum immer diese Superlative?) – geschrieben. Eine ältere Frau hat sich dazu gesetzt. Ich hab dann das Tippen aufgegeben, schaut ja wirklich ein wenig schäg aus, und hab mich mit ihr unterhalten. Ihr Mann ist vor zwei Jahren an Lymphdrüsenkrebs gestorben. Die letzten sechs Wochen hielt er es nur noch mit Morphium aus! Sie sagt, sie sei jetzt noch nicht darüber weggekommen. Sie ist Naumburgerin, stammt aber aus Pommern. Im Dom war sie erst ein Mal und da hat sie's furchtbar gefrohren. Es stimmt also, was der Führer sagte, die Naumburger hätten ein gespanntes Verhältnis zum Dom.
Den Akku musste ich auch laden, darum ging ich gleich noch zum Abendessen. Und da war ich interessehalber doch etwas ausgefallen unterwegs. Das "Lokal" heißt "Taverne zum 11. Gebot" und liegt in einem Hof unmittelbar unterhalb des Domes. Kein Mensch da, der "Wirt" streicht seine Tische. Ich frage ob ich was bekommen könne, er meint, es käme ganz darauf an was ich wolle. Wir einigen uns auf einen Burgunder von Saale-Unstrut, also von hier, Wasser und einen UTA-Zopf, ein Hefegebäck mit Tomatenfüllung, creiert zum großen Treffen der Utas Deutschlands. Im Dom erfuhr ich dass es das wirklich gibt! Und dass es wegen der grossen Nachfrage jährlich wiederholt werden soll! Sie sind schon ausgebucht bis 2012! (Wenn's stimmt.) Wir haben uns dann gut unterhalten. Es ist auch noch ein Freund des Wirts dazu gekommen, der sich über den regen Betrieb wunderte. Also, Fazit, der Wirt ist ein Aussteiger und hat sich so schon zwei Winter durchgebracht. Ich wünschte ihm viel Glück.
Zwischen den Besuchen im Domschatzgewölbe nahm ich also an einer Führung im Dom teil.
Der Dom besteht aus einem Sammelsurium von Stilen. Zuletzt baute Kaiser Willhelm den vierten Turm dazu. Es geht von alter Romanik (die Zeit mit den runden Bögen und den großen Köpfen) bis in die Hochgotik (als die Spitzbögen und die ebenmäßigen Menschen in Mode waren).
Der Dom hat zwei Lettner, also sowas wie wir in Wechselburg haben. Der östliche liegt über der Krypta (auch noch ein Teil des Vorgängerdomes). Der Teil hinter dem Lettner ist erhöht, und die Brüstung ist so hoch, dass das gemeine Volk in der Kirche die Priester nicht sehen, sondern nur hören konnte,
Der Lettner im Westschiff – also da, wo heute der Chor ist – ist ebenerdig. Hier ist der Klerus und der Adel aus des Volkes Mitte in den vom Lettner begrenzten Teil gegangen. Und hier gibt es eine der Erneuerungen des Naumburger Meisters, das Kreuz steht nicht über den Gläubigen, sondern in Augenhöhe, was eine gewaltige emotionale Wirkung auf die damaligen Leute gehabt haben muss. Man geht praktisch unter den ausgebreiteten Armen Christi durch den Lettner.
Und nun bin ich in dem Raum, in dem sich Uta seit mehr als 500 Jahren aufhält. Sie ist schön.
Aber die deutschnationalen und dann die Nazis haben sie zum Vorbild der Deutschen Frau hochstilisiert und zu dem gemacht, was sie nun ist, "die Berühmtheit" des Naumburger Domes. Jetzt könnte ich noch von den anderen Stifterfiguren erzählen, aber das kann jeder nachlesen, der's wissen will. Aber eins noch: Nachdem die Nazis Uta so hochstilisiert hatten, hatte Walt Disney Uta als Vorlage für die böse Königin in seinem "Schneewittchen" verwendet. Und das stimmt, deshalb ist mir die immer so bekannt vorgekommen.
So, es ist jetzt 22.30 Uhr, morgen warten 20km auf mich!
Euer gesprächiger
Siegfried